NATO-Manöver: Die Vision von der „Bedrohung aus dem Osten“ kehrt zurück
Wiedergänger Das Narrativ von der „Gefahr aus dem Osten“ lag im Instrumentenkasten des Kalten Krieges obenauf. Es ließ westlich des „Eisernen Vorhangs“ ein latentes Bedrohungsgefühl rumoren, rechtfertigte Abschreckung, Aufrüstung und Kriegsfähigkeit
Auch schwedische Amphibienfahrzeuge sind beim NATO-Manöver „Steadfast Defender“ gefragt
Foto: Jonathan Nackstrand/AFP/Getty Images
Es handelt sich um das bisher größte NATO-Manöver seit Ende des Kalten Krieges. Bei der am 20. Januar begonnenen Übung „Steadfast Defender“ sind über 90.000 Soldaten und alle 31 NATO-Mitglieder inklusive des noch gar nicht offiziell aufgenommenen Schwedens dabei. Es werden US-Truppen in Größenordnungen nach Europa verlegt, um bis Ende Mai den „Ernstfall“ durchzuspielen: eine russische Invasion gegen alliiertes Territorium, so der Niederländer Rob Bauer, Vorsitzender des NATO-Militärausschusses. „Wenn sie uns angreifen, müssen wir bereit sein.“
Das Waghalsige, die logischen und sachlichen Defizite dieser Annahme liegen auf der Hand, werden aber hingebungsvoll in Kauf genommen. Sollte es tatsächlich so
Defizite dieser Annahme liegen auf der Hand, werden aber hingebungsvoll in Kauf genommen. Sollte es tatsächlich so sein, müsste ein Aggressor Russland über ein Angriffsvermögen verfügen, wie es im Verlauf von gut zwei Jahren Ukraine-Krieg nicht erkennbar war. Verhielte es sich anders, wäre die Kriegslage eine andere. Zudem wird der westlichen Militärhilfe mit ihrem Waffentransfer und gewaltigen Modernisierungsschub für die ukrainischen Streitkräfte ein denkbar ungünstiges Zeugnis ausgestellt. Es fällt ein Schatten auf Qualität, Handhabbarkeit und Durchschlagskraft des verschickten Equipments vom Leopard-2-Panzer bis zum Patriot-Abwehrsystem. Ist Russland alldem überlegen – und nur dann würde es ja wohl einen Angriff auf das Europa der NATO riskieren –, muss es um die in die Ukraine dislozierten Arsenale schlecht bestellt sein.Zwei kollidierende Narrative über RusslandOffensichtlich kollidieren zwei Narrative – das vom angriffswilligen „russischen Imperialismus“, der sich nach der Ukraine den Rest Europas vornimmt. Und das von einem Gegner, dem unablässig Schwäche und Unvermögen attestiert werden, dem westlichen Bollwerk Ukraine ernsthaft Paroli zu bieten. Im Spätsommer 2022 war in Deutschland der erzwungene Rückzug russischer Verbände aus der Region Charkiw medial gefeiert und als Vorspiel einer ukrainischen Rückeroberung der Krim wie aller besetzten Gebiete gedeutet worden. Tenor: Die Invasionsarmee sei zu demotiviert, zu schlecht geführt und ausgerüstet, als dass sie einer konzertierten Aktion – die NATO liefert, die Ukraine kämpft – auf Dauer standhalten werde. Sie habe es nach Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 nicht einmal vermocht, bis nach Kiew vorzustoßen, sondern unterwegs kapitulieren müssen.Es bedarf keiner ausgeprägten kognitiven Fähigkeiten, um zu schlussfolgern, dass ein solcher Gegner NATO-Gebiet schwerlich überrollen kann wie allenthalben suggeriert. Er wird auch nicht der Idee verfallen, etwa die baltischen Staaten oder Polen zu attackieren, um sich dem Bündnisfall auszusetzen, mit allen militärischen Konsequenzen, die dann zu erwarten wären. Sosehr die russische Invasion in der Ukraine nicht zu unterschätzen ist, so offensichtlich gebricht es der NATO und ihrer Kriegsermächtigung an innerer Logik.Die Angriffe des Westens auf SowjetrusslandAls habe er schon lange darauf gewartet, tritt ein historischer Wiedergänger vor den Vorhang und weckt Erinnerungen an das bipolare Zeitalter. Sie ist wieder da, die „Gefahr aus dem Osten“, die einst als „Bedrohungslegende“ im Instrumentenkasten des Kalten Krieges obenauf lag. Sie ließ westlich des „Eisernen Vorhangs“ ein latentes Bedrohungsgefühl rumoren, rechtfertigte Abschreckung wie Aufrüstung und verschaffte dem Gebot, jederzeit kriegsfähig zu sein, die nötige Massenloyalität. Die damit einhergehende propagandistische Tradition zieht ihre Furche durch ein ganzes Jahrhundert.Bereits nach 1917 kursierte die Behauptung vom ungezügelten Streben des „Bolschewismus“ nach Weltherrschaft. Politik- und stimmungsbildend sollte das namentlich in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien Wirkung hinterlassen, in Nationen also, die gerade einen Weltkrieg mit zehn Millionen Toten abgeliefert hatten. Wie sich bald zeigte, waren es dann nicht die Bolschewiki, die Europa angriffen, sondern westliche Staaten, die zwischen 1918 und 1921 Sowjetrussland zu erobern suchten. Es begann damit, dass ein britisches Expeditionskorps am 9. März 1918 im Nordmeerhafen Murmansk landete. In den folgenden Jahren erzielten Militärverbände aus den USA, Frankreich, Italien, Serbien, Rumänien, Japan und dem Vereinigten Königreich teils beachtliche Geländegewinne.Bedrohungslegende: In 72 Stunden steht „der Russe“ am RheinDie Interventen traten schließlich den Rückzug an, als der erhoffte Regime Change ausblieb. Abgesehen davon, dass die 1922 gegründete Sowjetunion ökonomisch zu labil war, um nach globaler Hegemonie zu greifen, zerstob jeder Wunsch nach einem „Export der Revolution“ ohnehin an den Nachkriegsrealitäten in Mittel- und Westeuropa. Lenin hatte in seinen späten Schriften wie Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus darauf bestanden, dass die Bedingungen eines revolutionären Umschwungs in jedem Land selbst reifen sollten und nicht von außen hineingetragen werden konnten.Nach 1945 kehrte das Narrativ vom „Expansionsdrang des Ostens“ zurück, nunmehr bezogen auf den von der UdSSR geführten Warschauer Pakt. Westliche Kriegsfähigkeit wurde zur normativen Prämisse des Daseins als System und Bündnis erhoben. Die daraus folgenden Strategien der NATO wechselten vom Containment und von der „Vorneverteidigung“ der 1950er Jahre zu den Abschreckungsdoktrinen der „Massiven Vergeltung“ (1957) und der „Flexible Response“ (1967/1968).Flankiert wurde das von einer psychologischen Kriegsführung, die sich als Krieg vor dem Krieg verstand und permanenten Alarmismus schätzte, wie ein Blick auf Schlagzeilen westdeutscher Zeitungen vom Sommer 1971 offenbart: „Der militärische Druck der Sowjets wächst“, meldet der Rheinische Merkur am 21. Mai. „Sowjetmarine überholt US-Navy“, titelt die Süddeutsche Zeitung am 30. Juli. „Ex-General über Offensivpläne der Sowjetunion“, kündigt die Welt am 12. August an; „Moskaus Zangengriff in die Flanken der NATO“, die gleiche Zeitung gut zwei Wochen später, am 29. August. Oder: „Vorstoß bis zum Rhein in drei Tagen“, so der Stern am 29. August. „Sowjet-Rüstungsvorsprung vergrößert“, klagt der Tagesspiegel am 3. September 1971. Es galt als ausgemacht: Wenn er will, steht „der Russe“ in 72 Stunden am Rhein. Die eigenen Sicherheitsdefizite seien horrend und durch ungenügende Vorkehrungen selbst verschuldet. Es bedürfe dringend der Abhilfe durch mehr Investitionen in eigene Kriegsfähigkeit.James Burnhams Aufruf zum AngriffskriegDas half, Rüstungsprogramme aufzulegen und durchzusetzen, mit denen sich „östlicher Expansionismus“ abwehren ließ. Sobald die NATO bei entsprechenden Projekten vor- und der Warschauer Vertrag nachlegte, war es wie bei einer „self-fulfilling prophecy“, man hatte den Beweis für die latente Aggressivität der Sowjets und ihrer Satelliten. Im Standardwerk The Coming Defeat of Communism des US-Philosophen James Burnham (1905 – 1987) fand sich der damals herrschende Zeitgeist auf die Formel gebracht: „Der Westen, wenn er am Leben bleiben will, muss glaubhaft entschlossen sein, Krieg zu führen.“ Was den Autor zugleich fragen ließ: „Warum sollten die Vereinigten Staaten nicht sofort einen totalen Angriffskrieg beginnen und damit die Angelegenheit erledigen? Wenn das Sowjetreich schwach ist, aber viele seiner Schwächen sehr wohl überwinden kann …“Dies bezog sich auf das noch im Aufbau begriffene sowjetische Kernwaffenarsenal. Strategische Parität zwischen den USA und der UdSSR verhieß statt überlegener Kriegs- eher gegenseitige Vernichtungsfähigkeit, was einen atomaren Erstschlag wenig ratsam erscheinen ließ.Burnhams Überlegungen auf das heutige Verhältnis zwischen der NATO und Russland zu übertragen, hieße was? Ganz einfach, wenn die russische Bedrohung so gravierend ist, wie sie derzeit beschworen wird und zu monumentalen NATO-Manövern nötigt, warum handelt man dann nicht sofort, bevor sich ein solcher Gegner vom Ukraine-Krieg erholt, diesen womöglich – angeschlagen zwar, aber erfolgreich – über die Runden bringt? Wenn die NATO kriegsfähig ist oder es in Bälde sein wird, böte es sich an, dies auszuspielen, solange Russland nicht wieder erstarkt und den Preis dafür, es als Militärmacht niederzuwerfen, in die Höhe treibt.Ein Debakel für USA und NATO, noch größer als in Afghanistan?Allerdings müsste es zunächst darum gehen, statt Krieg gegen Russland zu führen, den in der Ukraine nicht zu verlieren. Wofür es vorrangig einen Grund gibt: Die USA und NATO-Staaten wie Deutschland haben sich derart exponiert, dass es für die amerikanische Führungsmacht wie die globale Aura des Westens ein Debakel wäre, sich zurückziehen und eine Rumpf-Ukraine hinnehmen zu müssen. Das wäre in der Tat schon wieder eine „Zeitenwende“, sie würde von ihrem Aroma her den überstürzten Abzug der USA und der NATO aus Afghanistan im August 2021 übertreffen.Also allen Risiken zum Trotz vorbeugend handeln? Zu bedenken wäre: Russland wird um seiner Existenz willen das Schlachtfeld Europa nur dann als Kombattant betreten, sollte es durch die NATO dazu gezwungen sein. Dies könnte bei einem Präventivschlag geschehen, den die westliche Allianz im Bewusstsein kriegsrelevanter Überlegenheit unternimmt. Wäre das realistisch, um im Sinne von James Burnham (s. o.) „sofort einen totalen Angriffskrieg (zu) beginnen und damit die Angelegenheit (zu) erledigen“? Gibt die akkumulierte Kriegsfähigkeit des westlichen Bündnisses das her?Das strategische Kalkül von Verteidigungsminister Boris PistoriusDas Dilemma besteht darin: Selbst wenn die NATO-Armeen in Gänze über eine hohe Angriffsqualität verfügen, trifft das noch lange nicht auf die Kriegsfähigkeit eines hochkomplexen, hochverwundbaren gesellschaftlichen Gefüges in ihren Staaten zu. Da schon deren Krisenresistenz, wie die Gegenwart zeigt, zu wünschen übrig lässt, wie steht es dann um die „Kriegsresistenz“?Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) insistiert unablässig und unverdrossen: „Wir müssen kriegstüchtig werden. Wir müssen wehrhaft sein. Und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen.“ Mit anderen Worten, Kriegstüchtigkeit ist die Conditio sine qua non eines strategischen Kalküls, bei dem es fast schon tröstlich ist, dass es auf höchst fragwürdigen Annahmen hinsichtlich des in Frage kommenden Gegners beruht.Immerhin blieb bei den bisherigen Überlegungen ausgeklammert, dass Russlands Nuklearpotenziale einen Rahmen setzen, der es verdient, bei allen Szenarien bedacht zu werden. Allein das verweist auf das signifikante Glaubwürdigkeitsparadox aller forcierten Kriegsertüchtigung. Steht im Hintergrund womöglich das Verlangen Pate, lieber das Nichts zu wollen, als nichts zu wollen?
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