Polizeiruf 110: „Der Dicke liebt“ ist kein Krimi von der Stange, sondern ein Kunstwerk
Fernsehen Der zweite „Polizeiruf 110“ aus Halle von Clemens Meyer und Thomas Stuber hält, was der erste vor drei Jahren versprochen hat. In der „Der Dicke liebt“ schenken die Macher sich nichts und den Zuschauern nicht viel
Lehrer Krein (Sascha Nathan) wird in seiner Wohnung von Henry Koitzsch (Peter Kurth) vernommen
Foto: Felix Abraham/Filmpool Fiction/MDR
Nach der furiosen ersten Folge musste es mit dem „Polizeiruf“ aus dem anhaltinischen Halle endlich weitergehen. Der künstlerisch schwer ambitionierte Auftaktfilm An der Saale hellem Strande (2021) wirkte wie eine Abrechnung nach den plüschig-launigen und schrullig-amüsanten Jahren mit Schneider und Schmücke (Wolfgang Winkler/Jackie Schwarz).
Als Schattenmenschen gut bedient
Da waren die Erwartungen hochgeschraubt, nachdem es drei Jahre dauerte, bis man die beiden Kommissare Henry Koitzsch (Peter Kurth) und „Michi“ Lehmann (Peter Schneider) nun wiedersehen konnte. Seinerzeit suchten sie nach dem Messermörder eines Kellners aus dem renommierten Saale-Restaurant Krug zum grünen Kranze – und blieben erfolglos. Die Geschichte wurde gr
em renommierten Saale-Restaurant Krug zum grünen Kranze – und blieben erfolglos. Die Geschichte wurde größtenteils als knisterndes Kammerspiel erzählt. Eine Funkzellen-Recherche zum Tatort setzte Figuren zur Befragung vor die Schreibtische der Kommissare, die sich in ihrer Skurrilität, ihren Außenseitermanien, aber auch in ihrer Tragik und Einsamkeit zu übertreffen schienen. Sind diese Leute überhaupt der Rede wert? Oder gut bedient, als Schattenmenschen angestaunt und angestarrt zu werden? – schienen die Sequenzen aus dem Premierenfilm zu fragen.Nun also am 21. April zur ARD-Primetime der zweite Streich mit Der Dicke liebt. Um zweierlei vorwegzunehmen: Der Täter mit dem Messer läuft weiter frei herum. Und: Drehbuchautor Clemens Meyer (Roman Als wir träumten) und Regisseur Thomas Stuber haben den einmal gesetzten Standard als Tugend erkannt und gepflegt, ohne dies über Gebühr auszukosten. Sie kennen keine Scheu, sich zu zitieren. Das Lied An der Saale hellem Strande erklingt erneut, diesmal nicht von Koitzsch im Büro mit einer Zeugin gesungen, sondern wie ein Choral intoniert, um eine Tragödie akustisch auszumalen. Auch das herbe Dekor der Plattenbauten ist wieder da, den wiederholten Vogelblick auf die Hochstraße zwischen Halle und Halle-Neustadt schenken sich die Macher ebenso wenig. Diese Trasse ist als Motiv unbezahl- und daher unbegrenzt wiederholbar. Sie nimmt einer ansonsten harmonisch historisierenden Stadtlandschaft die Gefälligkeit und darf nicht fehlen. Diesmal ist die Piste mehr bei Tag als Stimmungsmacher gefragt, denn in nächtlicher Düsternis als atmosphärisches Fluidum unverzichtbar.Meyer und Stuber legen zum zweiten Mal ein Film- und damit Kunstwerk vor. Keinen Kriminalfilm von der Stange, keinen Tatort der verstiegenen Art, der sich in Cyberwelten austobt und den Zuschauer gern als anachronistisches Relikt abschreiben würde, wäre da nicht die leidige Gebührenfrage. Was Koitzsch und Lehmann diesmal als Fall übertragen wird, widerfährt ihnen wie eine Heimsuchung. Es scheint sie mehr zu beschädigen, als zu beschäftigen. Die achtjährige Inka ist nach der Schule spurlos verschwunden, wird fieberhaft gesucht und schließlich tot in einer verrotteten Gartenkolonie, einem Asyl für Obdachlose, gefunden. Ein Sittlichkeitsverbrechen ist nicht auszuschließen, doch nicht sicher, wie die Obduktion ergibt. Eine Gewalttat mit Todesfolge war es allemal.Die Kommissare sollen versagenKoitzsch tröstet sein Alkoholismus kaum über die Erschütterung hinweg. Der Flachmann hilft ihm aber, nicht an sich zu verzweifeln und teils als Alleingänger Ermittlungen zu betreiben, von denen er nicht vollends überzeugt scheint. Was er unternehme, sei nötig, um den Kollegen Lehmann zu schonen, behauptet Koitzsch, auf dass ihm nur bedingt oder gar nicht geglaubt wird. Der mutmaßlich Schutzbedürftige wird im Unterschied zum ersten Fall in seiner Familie gezeigt, etwa beim Gebet vor dem Abendbrot – eine Szene wie ein Vorspiel, um anzudeuten, wie der „Fall Inka“ Lehmanns Familienleben überlagert und die Angst um die eigenen Kinder schürt.Beide Kommissare müssen – und sollen wohl auch – aus ihrer Betroffenheit heraus versagen, da Inkas Rechenlehrer Herr Krein (Sascha Nathan) unter Verdacht gerät. Als seinen kleinen Schülerinnen in närrischer Zuneigung ergebener Pädagoge, gestraft mit einer plump-massigen Figur und skurrilen Neigungen zugetan wie dem Sammeln von Teddybären und anderen Plüschtieren in seiner Wohnung, ist er für den Mob aus dem Plattenbau der gesuchte und gefundene Täter – ein infamer Sittlichkeitsverbrecher, was sonst? Der hat es verdient – sagt „des Volkes“ Zorn – zu Tode gehetzt und zum Fenstersprung getrieben zu werden, als längst klar ist, dass zwei perverse Gymnasiasten Inka umgebracht haben.Koitzsch und Lehmann kommen zu spät, um jemanden zu retten, der bereits rettungslos verloren ist, als ihn ein erster scheeler Blick seziert. Die Schule hat ihren Anteil daran. Weil sie sich nicht schützend vor ihren Lehrer stellt, sondern ihn suspendiert und damit ausliefert. Derart stigmatisiert, hat Herr Krein nur noch die Wahl, auf der Straße gelyncht zu werden oder auf die Straße zu springen. Fernsehdramatik als Gesellschaftsdiagnostik. Schon der Kinofilm Das Lehrerzimmer (Regie İlker Çatak) hat im Vorjahr den Mikrokosmos Schule als Spiegel einer Gesellschaft begriffen, die sich in den absurdesten Normierungen gefällt und dadurch immer unfähiger wird, daraus erwachsende Konflikte zu lösen oder wenigstens einzudämmen. Ja, die sich dieser permanenten Konfliktsucht nicht einmal bewusst sein will. In Der Dicke liebt hat das eine tödliche Konsequenz. Die wird umso unerbittlicher in ihrer ganzen Absurdität und (un-)aufhaltsamen Folgerichtigkeit erkennbar, wenn künstlerische Authentizität darauf drängt, dies zu begreifen.Dann bleib doch hier, sagt der ZuchthäuslerKurz bevor Lehrer Krein in die Tiefe springt, wird ihm wie ein Requiem „An der Saale hellem Strand“ in der Hermetik seiner Puppenstube eingespielt. Es grenzt nicht nur an Zynismus, man kann sich nur noch damit behelfen, so der Sound.Als Koitzsch wie in der ersten Folge im „Roten Ochsen“, dem Halleschen Zuchthaus, einen Lebenslänglichen besucht, den er lange kennt, mit ihm Schach spielt und Whisky trinkt, reden sie kurz über den „Fall Inka“. „Ich glaube nicht, dass es hier schlimmer ist als draußen“, sagt der Kommissar. „Dann bleib doch hier“, wird ihm geantwortet.
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