So paradox kann Politik sein, noch dazu die der derzeitigen Bundesregierung. Während in Deutschland Sympathisanten eines palästinensischen Staates, die sich den Ruf „Free Palestine“ nicht verbieten lassen, als Antisemiten denunziert werden und gegebenenfalls von Ausweisung bedroht sind, wird der türkische Präsident als erklärter Anwalt von „Free Palestine“ in Berlin von Regierungschef und Bundespräsidenten empfangen.
Für Recep Tayyip Erdoğan ist die Hamas „keine Terrororganisation“
Kaum jemand hat schärfer und eindrücklicher zum Ausdruck gebracht, wie er den Krieg in Gaza sieht. Für Recep Tayyip Erdoğan ist die Hamas „keine Terrororganisation“, sondern eine „Gruppe von Freiheits
ruppe von Freiheitskämpfern“, die sich um palästinensische Selbstbestimmung verdient macht. Auf einer Kundgebung zum 85. Todestag von Mustafa Kemal Atatürk ging er noch weiter und äußerte, Israels Legitimität werde aufgrund seines „eigenen Faschismus infrage gestellt“.Schließlich betätigt sich die Türkei in der NATO – wie schon bei der Hängepartie um eine Aufnahme Schwedens – als Vetomacht, indem sie verhindert, dass die Allianz in einer „Gemeinsamen Erklärung“ Israel unbedingte Solidarität versichern kann.Erdoğans „Sündenregister“ sollte ausreichen, ihn hierzulande als Persona non grata zu ächten und als „Schurken“ zu geißeln, dem man die Tür weist, aber niemals öffnet. Auch nicht zum Arbeitsbesuch bei den höchsten Notabeln des Landes. Aber nein, diesen gibt es und demzufolge die Frage. Muss daran die strikte Gefolgschaft gegenüber Israel nicht Schaden nehmen, der sonst die Erstürmung von Krankenhäusern in Gaza, die Vertreibung von Millionen Palästinensern und deren Bedrohung durch tödlichen Beschuss nichts anhaben kann?Große Teile der Welt haben einen völlig anderen Blick auf den Gaza-Krieg Olaf Scholz lässt seinen Sprecher versichern, es gäbe „eine große Bandbreite politischer Themen“, die besprochen werden sollen. Auch der Oppositionsführer hat nichts dagegen. „Den lange geplanten Erdoğan-Besuch jetzt abzusagen, wäre sicher falsch“, vermerkt Friedrich Metz auf seinem X-Account. Und die heile Welt des uneingeschränkten Einvernehmens mit Israel?Offenbar ist sie nicht die allein selig machende, schon gar nicht die reale Welt. Die hat in großen Teilen einen völlig anderen Blick auf den Gaza-Krieg und seine Ursachen. Irgendwann wird diese Schlacht um eine Enklave des palästinensischen Widerstandes zu Ende und absehbar sein, was für das Existenzrecht der Überlebenden übrigbleibt. Nicht viel bis nichts, ist zu befürchten.Die Israelis werden daran schwerlich etwas ändern, demzufolge andere gefragt sein. Vor knapp einer Woche hat ein Sondergipfel von 60 arabischen und islamischen Staaten in Saudi-Arabieneine „bindende“ UN-Resolution für einen sofortigen Stopp der israelischen Angriffe auf Ziele im Gazastreifen verlangt. Beim Gruppenfoto stand Erdoğan in der ersten Reihe mit Gastgeber Kronprinz bin Salman, zwischen Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und dem iranischen StaatschefEbrahim Raisi.Er kann für sich beanspruchen, ein Sprecher dieser Gemeinschaft von internationalem Gewicht – und auch deshalb nach Berlin gebeten zu sein? 60 Staaten haben in Riad im Namen der Arabischen Liga und der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) erklärt, sollte keine derartige UN-Resolution verabschiedet werden, wäre dies „eine Komplizenschaft“, mit der Israel erlaubt werde, „seine brutale Aggression fortzusetzen, die unschuldige Menschen tötet und Gaza in Ruinen verwandelt“.Es sei einmal dahingestellt, ob sich Deutschland diese „Komplizenschaft“ ankreiden lassen muss oder nicht. Erdoğan zu empfangen und anzuhören, kann hilfreich sein, einem solchem Verdikt zu entgehen. Der türkische Staatschef vertritt eine Regionalmacht, hat Einfluss in der arabischen Welt und verfügt über die Fähigkeit, flexibel mit höchst unterschiedlichen Partnern umzugehen, handelt es sich nun um Wladimir Putin oder Wolodymyr Selenskyj. Eine Außenpolitik der moralisierenden Selbsteinschnürung ist ihm ebenso fremd wie eine der Selbstbeschränkung.Ganz anders Deutschland. Dessen Außenpolitik gleicht seit geraumer Zeit einer Hermetik, die aus einer Selbsteinschließung im Moralgefängnis resultiert und auf Freigang verzichtet. Sie ist starr und unbeweglich. Seit den Hamas-Überfällen und der israelischen Kriegsreaktion beherrscht ein moralisierender Kurzschluss den Umgang mit Staaten und Politikern: Entweder du bekennst dich ohne Wenn und Aber zur Politik Israels oder deine Satisfaktionsfähigkeit ist für uns verspielt. Damit haben auch politische Lösungen ausgespielt, die auf Kompromisse aller an einem Konflikt Beteiligten angewiesen sind. Die zuständige Ministerin ist zwar durch den Nahen Osten getourt, war aber viel zu festgelegt, um etwas zu erreichen und mehr zu sagen, als dass in Gaza temporäre Feuerpausen geboten seien, was längst alle fordern.Gärt in Berlin ein Bewusstsein dafür, international als Minderheit abgehängt zu werden?Eine Begegnung mit Recep TayyipErdoğan verlagert die Suche nach der Wahrheit in die Kontroverse, die dringend gebraucht wird, um politischen Lösungen näherzukommen. Wenn der Gast als Botschafter der Palästinenser argumentiert, ist das von Vorteil. Deren Interessen sind nicht dadurch vertreten, dass sich Deutschland auf die Zwei-Staaten-Option zurückzieht, aber gegenüber Israel nichts zu unternehmen wagt, damit es dazu kommt.Nicht auszuschließen, dass in Berlin ein Bewusstsein dafür gärt, international als Minderheit abgehängt zu werden und die Zeichen eines multipolaren Weltgefüges nicht angemessen zu verstehen. Erdoğan jedenfalls kann mit den aktuellen Weltzuständen nicht nur etwas anfangen, er ist ein Teil davon.