Sprache, so das Alltagsverständnis, sei so etwas wie das in Worte gefasste Abbild von Wirklichkeit. Aber diese Definition ist unzureichend, erst recht in der Politik. Wenn eine Bundeskanzlerin oder ein Bundeskanzler von „Staatsräson“ spricht, ist das viel mehr als die Beschreibung eines Zustands. Begriffe wie dieser haben das Zeug dazu, die Wirklichkeit, die sie abzubilden scheinen, zu verändern. „Wer die Dinge benennt, beherrscht sie“, schrieb einst der Politologe Martin Greiffenhagen, „Definitionen schaffen ,Realitäten‘.“
In diesen Tagen ist das Wort von der Staatsräson drauf und dran, Realitäten zu schaffen. Deshalb lohnt es sich, das Zitat noch einmal genauer zu betrachten, mit dem sie, die Staatsräson, ins deu
n, ins deutsch-israelische Verhältnis eingeführt wurde.Angela Merkel sagte am 18. März 2008 in ihrer Rede zum 60. Jahrestag der israelischen Staatsgründung vor der Knesset: „Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar. Und wenn das so ist, dann dürfen das in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben.“Spätestens am 8. Oktober 2023 war sie gekommen, die Stunde der Bewährung: Der Terrorangriff der Hamas stellte die Sicherheit Israels, von der Merkel gesprochen hatte, so brutal auf die Probe wie kaum etwas seit der Staatsgründung 1948. Und mehr als je zuvor in diesen 75 Jahren stellt sich für Deutschland die Frage, was daraus zu schließen sei, dass die Solidaritätsbekundungen mit dem jüdischen Staat „keine leeren Worte bleiben“.Nun zeichnet sich das Wort „Staatsräson“ einerseits durch die Aura des Gewichtigen, Verpflichtenden, unhintergehbar Gültigen aus, und so wollte es Angela Merkel ganz sicher verstanden wissen, ebenso ihr Nachfolger Olaf Scholz, der es jetzt im Bundestag verwendete: Dieser deutsche Staat, das geläuterte Land der Täter, bekennt sich nicht einfach nur zur Sicherheit und zum Existenzrecht Israels, sondern dieses Bekenntnis gehört zu den Grundbedingungen seiner, unserer Existenz als Bundesrepublik Deutschland.Andererseits: So eindeutig das erscheint, so breit und damit interpretierbar ist das Wort von der Staatsräson. Historisch gesehen diente es absolutistischen Herrschern dazu, jedes Mittel zu rechtfertigen, das sie mit der Existenzsicherung ihres Staates und damit ihrer Herrschaft begründen konnten.Heute, so sollte man zumindest annehmen, steht die Staatsräson für ein Land wie Deutschland nicht mehr im potenziellen Gegensatz zur Verpflichtung auf Menschenwürde und internationales Recht: Staatliches Handeln, eingeschlossen die praktische Solidarität mit einem angegriffenen Partner, ist an den Menschenrechten zu messen. Denn auch sie gehören zu den Grundbedingungen demokratischer Staaten. Angewendet auf das katastrophale Geschehen in Nahost: Die Verpflichtung auf Sicherheit und Existenzrecht Israels ist immer mit dem Anspruch auf Einhaltung der fundamentalen Rechte abzuwägen.Genau hier allerdings wird es angesichts des Angriffs auf Israels schwierig: Was heißt es, wenn Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge sagt, Staatsräson bedeute, „dass wir alles tun werden, um Israel in dieser schwierigen Zeit zu helfen“? Alles, was Benjamin Netanjahu will? Und was, wenn Michael Roth (SPD), der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, verkündet, zu „unserer Solidarität“ gehöre es, „Israel freie Hand zu lassen“?Vor allem Roth hat erschreckend deutlich gemacht, wie Politik manchmal daran arbeitet, dass „Definitionen ,Realitäten‘ schaffen“. Den Appell von UN-Generalsekretär António Guterres, Israel müsse das Völkerrecht beachten, tat er mit den Worten ab: „Ich finde, dass es uns jetzt nicht zusteht, … erst einmal wieder deutlich zu machen: Haltet euch jetzt bitte an Recht und Gesetz.“ Was für ein seltsamer Begriff von Solidarität unter demokratischen Staaten!Israel sei die einzige Demokratie im Nahen Osten, heißt es oft, und das ist nicht falsch – trotz der Angriffe der Regierung auf den Rechtsstaat, die es in den vergangenen Monaten ja auch gab. Wer in Deutschland das Existenzrecht dieses Staates mit guten Gründen verteidigen will, sollte eines nicht vergessen: Die Sicherheit Israels hängt langfristig auch davon ab, dass es mit Mitteln agiert, die dem internationalen Recht entsprechen und Konflikte nicht übermäßig eskalieren, so schwer das im Moment der Bedrohung auch ist. Darauf hinzuweisen, auch das wäre ein Gebot der Solidarität – und damit, wenn man so will, der deutschen Staatsräson.