Es konnte eigentlich niemanden überraschen. Nach dem Hamas-Angriff auf Israel und dem prompt vollzogenen Gegenschlag zu Luft und zu Lande waren nicht nur in den arabischen Ländern, sondern auch vielerorts in Deutschland propalästinensische Manifestationen zu erwarten. Teilweise wurden sie verboten, teilweise unter Auflagen erlaubt. Als am 20. Oktober am Bremer Bahnhofsvorplatz etwa 500 Menschen unter der Losung „Lass uns friedlich unsere Stimme erheben für unsere Geschwister in Gaza“ demonstrierten, mussten ihnen die Veranstalter durchaus nachvollziehbare Auflagen vorlesen: Es durften keine Symbole der für terroristisch erklärten palästinensischen Organisationen gezeigt werden – Zeichen der Hamas, der Volksfront zur Befreiung Paläst
;stinas, des Islamischen Dschihad.Außerdem waren Slogans untersagt, die Terrorakte billigen oder gar unterstützen. Um eine schnelle Auflösung der Kundgebung zu vermeiden, gaben die Veranstalter selbst Losungen vor, die von den Teilnehmern mehrfach wiederholt wurden. Unter anderem lauteten sie: „Frieden für Palästina! Gerechtigkeit für Palästina! Menschenrechte für die Palästinenser! Gaza in Not – kein Wasser und kein Brot! Gaza wird bombardiert, Menschenrechte massakriert!“ Zu Wort kam auch ein Redner der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft, der sich gegen Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus wandte, zugleich ein Ende der israelischen Besatzung verlangte.Etwa eine Stunde lang lief alles gut. Ob und wodurch kleinere Gruppen dann doch die Grenzen des Erlaubten überschritten, weshalb die Polizisten schließlich zu ihren Helmen griffen, war nicht genau zu ersehen. Immerhin kam es zu keinem gewalttätigen Zusammenstoß, wohl auch nicht zu Verhaftungen.Dass sich die Sorge unserer arabischen Mitbürger über die angekündigte Rache im Gazastreifen ebenso Bahn bricht wie die Empörung unserer jüdischen Mitbürger über den Angriff der Hamas, muss im Rahmen der grundgesetzlich gesicherten Meinungsfreiheit akzeptiert werden. Die deutsche Staatsräson beinhaltet das Existenzrecht Israels. Aber der deutsche Staat betont ebenfalls das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat.Wenn das schwer zu verstehen ist, hängt das auch mit der Berichterstattung der großen Medien zusammen. Sie heben Israel als allein demokratisches Land im Nahen und Mittleren Osten hervor, berichten aber nur selten über das schwierige Leben in den Palästinensergebieten. Noch seltener wird die tiefere Ursache reflektiert, manchmal sogar der Eindruck erweckt, die Palästinenser seien nach der Art kleiner Kinder an ihrer Misere selber schuld. Dabei sollte klar sein, dass es unter einem Besatzungsregime weder Demokratie noch eine ersprießliche ökonomische Prosperität geben kann.Ohnehin ist der Eindruck falsch, propalästinensische Demonstrationen stellten grundsätzlich das Existenzrecht Israels infrage. Dieses wurde bereits von der laizistisch geprägten Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) Jassir Arafats anerkannt – eine Vorbedingung, damit die Osloer Verträge vor 30 Jahren geschlossen werden konnten. Vor allem aber wird Israels Existenz international garantiert, was selbst den Fantasien palästinensischer Hardliner eindeutige Grenzen setzt. Andererseits: Wenn antisemitische Hetze zu hören ist, kann sie nicht von den Forderungen jüdischer Extremisten in der derzeitigen israelischen Regierung getrennt werden, die einen „Transfer“ der Palästinenser in die Nachbarstaaten durchsetzen wollen. Auch das käme einer unerhörten Annullierung von Heimatrechten gleich. Abgesehen von der Zumutung, die ein solcher Exodus für Jordanien und Ägypten bedeuten würde.Allein das Aufbranden immer neuer Gewaltwellen wie in diesem Augenblick kann die Existenz Israels und der Palästinenser wirklich infrage stellen. Daher gibt es keine Alternative zur äußerst mühseligen Suche nach einem Weg zum Frieden, der alle zusammenführt. Ob das zunächst in einen Waffenstillstand und irgendwann in zwei kooperierende Staaten mündet oder in einen Staat mit einer gemischten Regierung und gleichen Bürgerrechten für alle, ist ungewiss. Unstrittig bleibt dabei, dass die beiden Konfliktparteien nur unter internationaler Mithilfe zu einem belastbaren Ausgleich kommen werden.Dass sich jetzt viele Staaten schlagartig ihrer Pflicht bewusst werden, zeigte soeben eine nach Kairo einberufene Krisenkonferenz. Wie schwierig Fortschritte zu erreichen sind, wurde nicht nur durch das Fehlen der beiden Kontrahenten offenbar. Der israelische Außenminister mochte nicht mit dem Außenminister der Palästinensischen Autonomiebehörde an einem Tisch sitzen, der Iran war ferngeblieben, und der Außenminister von Katar verließ die Konferenz, ohne ein Statement abzugeben. Immerhin konnten parallel Hilfslieferungen für den Gazastreifen starten. Und die USA kamen den Forderungen der arabischen Staaten entgegen, indem sie Israel zum Aufschub der angekündigten Bodenoffensive drängten. Die Hamas gab dafür vier Geiseln frei. Ein Hoffnungsschimmer.