Historiker Jürgen Zimmerer über feiernde Palästinenser: „Hier wird niemand ausgebürgert!“
Interview Welche Verpflichtung hat Deutschland nach dem Angriff auf Israel? Jakob Augstein spricht mit dem Historiker Jürgen Zimmerer darüber, was Erinnerungskultur in Kriegszeiten bedeutet – und wie wir mit Hamas-Fans auf der Sonnenallee umgehen
Historiker Jürgen Zimmerer: „Über Gräuel, die Deutsche 1904 in Afrika verübt haben, reden wir hier viel zu selten“
Foto: Phillip Plum für der Freitag
Wenige Tage nach dem Angriff auf Israel kommt der Historiker Jürgen Zimmerer ins Literaturhaus. Auf einmal hat dieses (schon lange geplante) Gespräch über deutsche Erinnerungskultur eine ungeahnte Aktualität: Müssen wir Israel in seinem Kampf gegen die Hamas militärisch beistehen?
Jakob Augstein: Herr Zimmerer, was hat der Angriff der Hamas auf Israel bei Ihnen ausgelöst?
Jürgen Zimmerer: Blankes Entsetzen. Diese – auch performative – Gewalt ist Terror im eigentlichen Sinne: Entführen und Zurschaustellen von Opfern, das kannten wir ja zuletzt vor allem vom IS.
Angela Merkel hat 2008 gesagt, die Sicherheit des Staates Israel sei deutsche Staatsräson. Selbst Leute, die den Geist eines solchen Satzes begrüßen, haben das dama
srael sei deutsche Staatsräson. Selbst Leute, die den Geist eines solchen Satzes begrüßen, haben das damals so kritisiert: Die Israelis verlassen sich besser nicht ausgerechnet auf Deutsche …Zumal: Was wollen die Deutschen denn tun, um für die Sicherheit Israels zu sorgen? Die Bundeswehr schicken, um beim nächsten Angriff dessen Grenzen zu sichern? Das wurde nie spezifiziert.Mein Freund Jan Fleischhauer pflegt zu sagen: U-Boote liefern und Klappe halten.Das unterscheidet mich von Herrn Fleischhauer: Ich habe nicht auf alles eine Antwort. Und wenn ich mir etwa die Bundeswehr angucke, sehe ich wenig militärische Möglichkeiten. Deswegen glaube ich, der Merkel-Satz war vor allem für die deutsche Öffentlichkeit bestimmt.Inwiefern?Fünf Jahre nachdem Merkel das in der Knesset gesagt hatte, wurde der Grundstein für das Berliner Stadtschloss gelegt. Mit dem Humboldt Forum wurden die Wunden des Zweiten Weltkrieges ausradiert. Und wodurch? Durch ein preußisches Disneyland! Durch eine Glorifizierung Preußens! Das ist ein steingewordener Schlussstrich. Oder wie sollte man das anders interpretieren? Das Narrativ der Nation der Richter und Henker wird ersetzt durch das alte Narrativ des Landes der Dichter und Denker. Das ist eine Rückbindung der Identität der Berliner Republik ans Kaiserreich, an das 19. Jahrhundert, unter Überspringen der deutschen Gewaltgeschichte der Mitte des 20. Jahrhunderts.Es gibt das Denkmal für die ermordeten Juden Europas.Sicherlich, allerdings liegt dies nicht in der zentralen Achse Berlins vom Brandenburger Tor zum Alexanderplatz Man kann es also auch ignorieren. Diese Schlussstrich-Politik wurde mit solchen Sätzen wie dem von Merkel begleitet: Keine Angst, wir haben aus unserer Geschichte gelernt, wir sind jetzt die Guten, die Erinnerungsweltmeister…Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagt: Die Erinnerung an den Zivilisationsbruch der Shoah ist und bleibt einzigartig in unserem nationalen Gedächtnis. Ist es gut, so einen kodifizierten Erinnerungskanon zu haben?Es ist gut, dass wir uns an den Holocaust und die Verbrechen des Nationalsozialismus erinnern. Das ist die zentrale Frage der deutschen Geschichte. Ich wäre dafür, dass in diesen offiziellen Kanon auch andere Geschichten aufgenommen werden.Welche Geschichten sind das?Die Geschichte der sogenannten Gastarbeiter etwa, oder die Geschichte des Islams in Deutschland. Aber auch der Völkermord an den Herero und Nama, den wir Deutschen zwischen 1904 und 1908 begangen haben. Letzterer spielt im offiziellen Gedenken kaum eine Rolle.Nicht?Nein. Wir alle wissen, was am 3. Oktober gefeiert wird: die deutsche Einheit. Aber kaum jemand weiß, was am 2. Oktober 1904 in unserer Geschichte passiert ist, dem Tag, an dem der deutsche General von Trotha den Schießbefehl gab, ein Schlüsselmoment im Genozid an den Herero.Berlin verhandelt seit acht Jahren mit Namibia über Reparationen wegen des Völkermords an den Herero und Nama.Da fällt mir ein denkwürdiges Ereignis ein. Das war in Windhoek, 2015 oder 16. Da trafen sich Nama-Vertreter mit dem deutschen Chefunterhändler Ruprecht Polenz und fragten ihn: Warum kriegen wir keine Reparationszahlungen? Das habt ihr für den Holocaust doch auch gemacht! Und dann belehrte Polenz die Nama darüber, sie dürften das Leid ihrer Vorfahren nicht in Beziehung zur Shoah setzen, das sei etwas völlig anderes. Als ich das gelesen habe, habe ich mich gefragt: Wie kann ein Vertreter der Tätergesellschaft die Nachkommen der Opfer in dieser Weise von oben herab belehren? Und wie kann er den Holocaust derart missbrauchen, um den Auftrag der deutschen Regierung zu erfüllen?Welchen Auftrag?Na, keine Reparationen an Namibia zahlen zu müssen. Ich nehme an, dass das seine Aufgabe war.Wie haben Sie reagiert, als Palästinenser den Hamas-Angriff auf Israel in den deutschen Straßen gefeiert haben?Das waren abstoßende Szenen. Das ist inakzeptabel, menschenverachtend! Mich schockiert aber auch, dass deutsche Politiker wie Carsten Linnemann die berechtigte Empörung dazu nutzten, zu fordern, denen entziehen wir jetzt die Staatsbürgerschaft. Auch weil es gerade ja auch eine Lehre aus der deutschen Geschichte ist, dass Menschen nicht einfach ausgebürgert werden können, nachdem ab 1933 vielen, vor allem auch jüdischen Menschen, die Staatsbürgerschaft entzogen worden war.Placeholder authorbio-1Was steckte hinter dem Vorschlag von Linnemann?Es klingt so, als gäbe es eine Kerngruppe der richtigen Deutschen. Und die anderen 25 Prozent, deren Eltern oder Großeltern 1945 nicht in Deutschland gelebt haben, die gehören nicht wirklich dazu. Man kann aber die feiernden Menschen auf der Sonnenallee verurteilen, ohne sofort das völkische Deutschland wiederherstellen zu wollen.Wie ändert sich das Gedenken, wenn ein Viertel der Menschen ein anderes Gefühl, andere Emotionen, gegenüber dem Holocaust hat als jemand, dessen Familie schon seit Jahrzehnten in Deutschland wohnt?Der persönliche Bezug zum Holocaust nimmt allgemein im Laufe der Zeit ab, das hat nicht per se etwas mit Einwanderung zu tun. Das ist der Lauf der Zeit.Wie lässt sich das lösen?Mit menschenrechtsgestütztem Verfassungspatriotismus.Bedeutet...?Wir müssen allen, die in diesem Land leben, ob mit oder ohne Migrationsgeschichte, folgende Botschaft mitgeben: Diese Bundesrepublik hat sich als Konsequenz der moralischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts darauf geeinigt, die Menschenrechte in den Vordergrund zu stellen. Das ist eine universalistische Verpflichtung für alle. Übrigens ist es nicht so, dass Migranten weniger erschüttert wären, wenn sie von den Nazi-Verfolgungen hören. Sprechen Sie einfach mal mit Gedenkstättenmitarbeiter*innen.Sie haben mal in einem Interview gesagt, Erinnerung sei keinNullsummenspiel. Stimmt das denn?Wieso sollte es nicht stimmen?Weil es nur eine bestimmte Menge an Schlagzeilen gibt. Und wenn man 30 Prozent mehr über die Verbrechen des Kolonialismus schreibt, dann wird 30 Prozent weniger über die Verbrechen des Nationalsozialismus geschrieben.Damit unterstellen Sie ja, dass Erinnerung vor allem aus Schlagzeilen besteht.Es geht um Aufmerksamkeit.Nicht nur. Zudem ist es praktisch so, dass man nur übergreifend über den Nationalsozialismus aufklären kann, wenn man Menschen mit einem anderen biografischen Hintergrund mitnimmt. Vor 20 Jahren habe ich als junger Dozent Seminare im Ruhrgebiet, in Essen, gemacht, da ging es um vergleichende Genozidforschung. Da waren viele junge türkische Männer drin. Natürlich haben wir da über den Völkermord an den Armeniern gesprochen, aber auch über den an den Herero und den Juden. Die Gespräche unter den Studenten waren sehr produktiv, weil Dinge diskutiert wurden wie: Brauchen wir mit unserem Wissen unbedingt einen positiven Bezug zur eigenen Geschichte, oder einen kritischen? Welche Rolle soll die Aufarbeitung spielen? Darum geht es mir: Wir können nicht auf Dauer einem Viertel der deutschen Bevölkerung sagen, ihr seid zwar hier, aber über die Lehren aus der deutschen Geschichte dürft ihr nicht mitreden. Hier ist unsere Leitkultur, da schüttelt man sich zur Begrüßung schön die Hände, aber die historische Identität dieser Republik ist fix, da habt ihr nichts mitzureden.Am Ende geht es beim Gedenken auch um Geld: Wenn es in das eine Projekt fließt, fehlt es woanders. Finanziell ist Gedenken zweifellos ein Nullsummenspiel.Da gebe ich Ihnen recht. Vielleicht geben wir beim nächsten Mal nicht 600 Millionen Euro für ein Preußenschloss in Berlin und knapp neun Millionen für die Restaurierung eines Bismarck-Denkmals in Hamburg aus.Also ist Erinnern nicht immer automatisch gut?Ich würde sagen: Erinnern kann auch schlecht sein, wenn es mit der Konstruktion von Feindbildern einhergeht. Wenn man sagt: Wir hier auf diesem Territorium sind ein Brudervolk, eine Rasse, und die anderen sind schlecht. Aber wir haben eine Pflicht zur Erinnerung an den Holocaust, das ist gar keine Frage.Braucht ein Land eine Identität?Jede Gruppe besitzt eine Identität. Das große Versagen unserer Generation ist es, keine europäische Identität aufgebaut zu haben. Meine Utopie wäre es, einen Kontinent der Menschenrechte zu erschaffen.Stattdessen wird sich hierzulande einmal im Jahr darüber beschwert, dass die deutsche Einheit noch nicht vollzogen ist.In meinem Buch mache ich den Punkt: Warum werden am Tag der Deutschen Einheit nicht auch die 25 Prozent mitgedacht, die nicht aus der DDR oder aus der Bundesrepublik kamen, sondern von woanders? Warum wird sich immer nur auf das Nationale im ethnischen, völkischen Sinne konzentriert? Aber wahrscheinlich fragen Sie da jetzt den Falschen: Mit Blick auf meine Herkunft bin ich ja eher ein Separatist.Wo kommen Sie denn her?Aus Regensburg (lacht).Da gibt es immerhin weniger Bismarck-Denkmäler…Sie werden zumindest nicht beachtet!Stichwort Bayern: War das Aiwanger-Flugblatt antisemitisch?Natürlich war das antisemitisch. Wir haben dadurch viel gelernt über das Denken, das in den 80ern in Bayern salonfähig war. Ich kann das aus eigener Anschauung bestätigen: Ich bin nur 50 Kilometer von Aiwangers Wohnort zur Schule gegangen, da gaben noch Nazis den Ton an. Ich hatte einen Lehrer, der stolz erzählt hat, dass er als junger Leutnant zweimal den Führer gesehen hat.War die Affäre ein Wendepunkt in der Erinnerungskultur?Ich glaube schon. Der eigentliche Skandal ist ja, dass Aiwanger allen, die sich für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Fall eingesetzt haben, den Stinkefinger gezeigt hat – und damit durchgekommen ist. Jetzt wissen es alle: Als Spitzenpolitiker kann man sich so was leisten und sich anschließend lustig machen über Kritiker. Dann kriegt man eben 25 Fragen von Ministerpräsident Markus Söder gestellt und beantwortet keine einzige davon. Man führt den bayerischen Ministerpräsidenten sogar am Nasenring durch die Manege. Und wird dafür noch belohnt, darf weitermachen. Und die Wählerinnen und Wähler goutieren dies auch noch. Ich fürchte: Mit dem Wiederaufbau des Berliner Schlosses fing die Wende in der Erinnerungskultur an. In Bayern wird sie nicht aufhören.Placeholder infobox-1
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