Krieg Der Geisel- und Gefangenenaustausch wirkt wie ein Offenbarungseid für die zynische Dialektik eines asymmetrischen Konflikts. Über den Versuch der Hamas, als unterlegene Partei ihre militärischen Nachteile politisch zu kompensieren
Angehörige verfolgen in Tel Aviv auf dem Smartphone die Entlassung von Geiseln an der Grenze zu Ägypten
Foto: Alexi J. Rosenfeld/Getty Images
Als sich die Hamas und Israel den Krieg erklärten, war eine asymmetrische Konfrontation im Anzug – ein Konflikt zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Kombattanten, zwischen einer Regierungsarmee und Widerstandsgruppen, die wie Partisanenkrieger agieren und sich terroristischer Methoden bedienen. Obwohl dieser Konflikttyp in etlichen Schattierungen das Konfliktgeschehen des 21. Jahrhunderts prägt, entzieht er sich – vom humanitären Völkerrecht abgesehen – rechtlicher Normierung. Es ist unmöglich, diese nachholen zu wollen.
Bei asymmetrischen Kriegen gehen Front und Hinterland ineinander über, militärische und politische Umstände ebenso, Psychologie und Propaganda entscheiden darüber, ob und wie Kampfhandlungen wahrgenommen we
enommen werden – im Sudan, in Äthiopien, im Jemen, in Syrien oder eben in Gaza. Dies sei vorausgeschickt, um sich dem Augenschein des Augenblicks hinzugeben, den im Gaza-Krieg eine Geiselübergabe beherrscht, mit der weiter Krieg geführt wird, auch wenn die Waffen schweigen. Was geschieht, wirkt wie ein Offenbarungseid, um über die zynische Dialektik asymmetrischer Konflikte aufzuklären.Was Benjamin Netanjahu sagtPremier Benjamin Netanjahu erklärt, die Freilassung von Geiseln offenbare, wie sehr die Hamas unter Druck stehe. Das mag sein, nur zeigt das zugrunde liegende Agreement gleichfalls, wie sehr seine Regierung international und innenpolitisch dem Zwang unterliegt, in der Geiselfrage zu handeln. Und die Hamas? Sie ist bemüht, als handlungsfähiger Akteur in Erscheinung zu treten, dem mit Katar und Ägypten diplomatische Emissäre zur Seite stehen. Wenn die mit Israel verhandeln, verhandelt Israel quasi mit der Hamas.Man hat es mit einem für asymmetrische Machtkonstellationen typischen Vorgang zu tun. Die unterlegene Partei versucht, militärische Nachteile politisch zu kompensieren. 2020 sondierten die USA mit den Taliban in Katar, um Konditionen für einen Abzug aus Afghanistan auszuloten. Das kam einer politischen Aufwertung gleich, obwohl die militärische Dominanz der Amerikaner in Afghanistan – so wie jetzt die der Israelis in Gaza – über jeden Zweifel erhaben war. Was freilich weniger auf deren fortgesetzte Reproduktion wie politische Legitimation zutraf.Vom ersten Tage anSo besagt der Augenschein des Augenblicks, dass es in Gaza einer überlegenen Militärmacht in sieben Wochen Krieg nicht gelungen ist, die Geiseln der Hamas zu befreien. Absehbar war das vom ersten Kriegstag an. Es anzuerkennen, hätte bedeutet, sich sofort mit der Alternative auseinandersetzen zu müssen: Rettung der Geiseln oder Liquidierung der Hamas. Und den Krieg an sich infrage zu stellen? Rache oder Rettung als Raison d’Être, darauf wollte es Premier Netanjahu nicht ankommen lassen. Was nichts daran ändert, dass die Geiselfrage den Kriegsverlauf wenn nicht bestimmt, so doch beeinflusst.Nimmt man den 25. November als Stichtag, weil da die Freilassung erster Geiseln in Gaza und erster Palästinenser in Israel begann, hat es bis dahin 47 Tage Luft- und 29 Tage Landkrieg gegeben. Die Bodenphase währt länger als in jedem der vier Gaza-Kriege, die seit 2008 geführt wurden. Während der Operation „Gegossenes Blei“ begann das „boots on the ground“ am 4. Januar 2009 und erfolgte in der Absicht, das gesamte Terrain zu besetzen. Alles endete nach zwölf Tagen, flankiert von der Live-Schalte eines israelischen Fernsehkanals zum Arzt Az al-Din Abu in Gaza-Stadt. Mitten im Gespräch wurde sein Haus von einem Panzer beschossen, sodass die Verbindung abriss. Später stellte sich heraus, dass in diesem Moment drei Töchter ums Leben kamen.Beim dritten Gaza-Krieg, der Operation „Starker Fels“ im Sommer 2014, wurde am 17. Juli 2014 zum Kampf am Boden übergegangen, um Abschussbasen für Raketen auszuschalten. Als am 5. August eine dreitägige Waffenruhe zustande kam, zogen sich die eingerückten Truppen über mehrere Tage verteilt zurück – nach im Schnitt 19 Tagen Gaza-Präsenz.Die Hamas setzt die Geiseln weiter als Waffe einGewiss ist der Aussagewert solcher Vergleiche – seinerzeit 19 Tage Bodenkrieg, jetzt 29 – begrenzt, zumal die israelische Führung die Hamas für immer und ewig ausschalten und sich dafür die nötige Zeit nehmen will. Bis es so weit ist – falls es je so weit sein sollte –, wird die Hamas die verbliebenen Geiseln weiter als Waffe einsetzen. Sie hat sich darauf offenbar gut vorbereitet und folgt dem Kalkül, die Initiative in der Hand zu behalten. Es sind Vorkehrungen getroffen, um die Betroffenen unter Beschuss in Gewahrsam zu halten und zu versorgen. Schließlich muss – wer mit Geiseln auf Kriegsszenarien einwirken will – garantieren, dass sie am Leben bleiben und in halbwegs gutem Zustand sind.Begünstigt wird das mutmaßlich durch eine dezentrale Internierung in unterirdischen, mehrstöckigen Labyrinthen. Es kommt als Momentum hinzu: Sind die kolportierten Berichte über die Dramaturgie des Hamas-Angriffs am 7. Oktober glaubwürdig, haben an diesem Tag nicht allein Hamas-Kader gehandelt, auch andere Paramilitärs, dazu Trittbrettfahrer, die sich vom Sog der Ereignisse treiben ließen und selbst Gefangene nahmen.Gestattet es die Freigabe von Geiseln der Hamas, eigenes Überleben nachzuweisen, eignet sich die parallele Feuerpause, ihre Verantwortung für Gaza zu demonstrieren. Humanitäre Hilfe findet in einem Ausmaß statt wie noch nie seit Beginn des israelischen Einmarschs. Zudem verschafft ein Zustand zwischen Krieg und Frieden Zeit, um die Frage nach einer Nachkriegsordnung aufzuwerfen, die nur als Nichtkriegsordnung, ohne israelische Gaza-Besatzung, einen Sinn haben kann.Fatale KollateralschädenDie vergangenen Wochen haben gezeigt, dass international der Beistand und das Verständnis für Israel Schaden nehmen, je länger der Gaza-Feldzug dauert und je rücksichtsloser er geführt wird. Es kann niemandem gleichgültig sein, was der Zivilbevölkerung geschieht. Ob die Hamas nun die Menschen in „zynischem Kalkül“ als Schutzschild missbraucht oder nicht – sie sind da. Ihrer extremen Verwundbarkeit entspricht spiegelbildlich die extreme Angreifbarkeit der israelischen Kriegsführung, die hier Asymmetrie auf die Spitze treibt. Auch bei der Libanon-Intervention 2006 hatte Israel abzuwägen, wie nach dem Einmarsch auf Widerstand der Hisbollah, sprich: deren Raketenangriffe, reagiert werden sollte. Die Bombardierung von Teilen Beiruts, vorrangig des muslimischen Viertels Haret Hreik, führte zu Hunderten von Toten. Als am 30. Juli 2006 der südlibanesische Ort Kana beschossen wurde, zog man unter den Trümmern eines Gebäudes 27 Tote, darunter 16 Kinder, hervor.Diese Angriffe hatten für den Kriegsverlauf eine eher untergeordnete Bedeutung, umso gravierender war der entstandene politische Kollateralschaden. Die Botschaft, wir halten zivile für legitime Ziele, ließ die proklamierte Selbstverteidigung einmal mehr als Aggression erscheinen, bei der humanitäre Rücksichten entfielen. Für Israel war das nicht zuletzt deshalb ein Fiasko, weil sich wiederholte, wozu es schon bei der Libanon-Invasion 1982 gekommen war. Nur trat 2006 noch deutlicher hervor, dass man die Asymmetrie als Waffe gebrauchte und Zivilisten kollektiver Bestrafung unterwarf. In Gaza wird das unter anderem dadurch sichtbar, dass der Süden von israelischen Militärs ausdrücklich als sicheres Fluchtziel für die Bevölkerung ausgewiesen und dann doch beschossen wird, als der Kampf gegen die Hamas im Norden allem Anschein nach die gewünschten Resultate schuldig bleibt.Woran sich zeigt, dass man die Hamas nur vollends zerstören kann, indem man den gesamten Gazastreifen zerstört. Schon im Afghanistan-Krieg wurden Taliban gejagt und ganze Dörfer getroffen. Mao Zedongs Lehre vom Volksbefreiungskrieg riet einst den Kämpfern seiner Volksbefreiungsarmee, sie müssten „sich in den Volksmassen bewegen wie ein Fisch im Wasser“. Hamas-Kämpfern dürfte das nicht schwerfallen. Die Regierung Netanjahu wird das darin bestärken, den Krieg so fortzusetzen, wie er bisher geführt wurde. Solange gekämpft wird, sichert das ihr politisches Überleben. Doch könnte es gerade die erschlagende Überlegenheit sein – eben die totale Asymmetrie –, die dem Grenzen setzt. Abgesehen davon, dass die Hamas noch genügend Geiseln in ihrer Gewalt hat.Placeholder infobox-1
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