Das Unpassendste, was Alexej Nawalny derzeit widerfahren könnte, wäre die vorzeitige Entlassung aus seiner 30-Tage-Haft. Sie würde womöglich beeinträchtigen, worauf seine Kampagne zielt: den Zweikampf mit Wladimir Putin, den sich Nawalny zum persönlichen Gegner auserkoren hat. Er will nicht länger nur Korruptionsermittler, Regimekritiker und Oppositionspolitiker sein. Der Aufstieg zum Herausforderer des Präsidenten ist fällig. Wogegen die russische Führung bisher wenig tun kann. Im Gegenteil, sie begünstigt, was sich abspielt. Wer Nawalny unter Arrest stellt, hat sich keinen normalen Gefangenen, sondern einen politischen Häftling eingehandelt, der Weltgeltung beansprucht. Vor dessen Zellentür stehen große Schuhe. Die von Andrej Sacharow, Alexander Solschenizyn und Lew Kopelew.
Wie sie der Sowjetunion im Zusammenspiel mit westlicher Medienpräsenz einst in die Parade fuhren, war keine Kleinigkeit. Es machte die östliche Weltmacht im Westen noch angreifbarer, als das im Kalten Krieg ohnehin der Fall war. Prompt wurde es für den Kreml zur Prestigefrage, in Dissidenten Gegner zu sehen, die Repression und Ächtung verdienten. Wobei politisch nicht viel gewinnen konnte, wer auf diese Weise keine Macht verlieren wollte. Um Wladimir Putin in die gleiche Falle zu treiben, überschreitet Nawalny gerade Grenzen, die bisher noch zu gelten schienen, als etwa Ex-Präsident Dmitri Medwedew und Premier Mischustin zu korrupten Figuren erklärt wurden. Mit dem Video über Putins angebliches Prunkschloss am Schwarzen Meer gerät die höchste Autorität des Staates und damit dieser selbst ins Visier. Einerseits soll die moralische Integrität des Präsidenten beschädigt, andererseits eine Lebensversicherung abgeschlossen werden. Nawalny badet in Drachenblut. Wenn ihm jetzt etwas geschieht, weiß man erst recht, wer es nur gewesen sein kann. Natürlich ist Nawalny so verwundbar wie einst Held Siegfried, aber er hat die Täter überführt, bevor sie handeln.
Wird unter diesen Umständen das angestrebte Duell offen ausgetragen? Ist vor allem sein Ausgang offen? Abgesehen von den Sicherheitskräften, die das durch Härte verhindern dürften, verfügt der selbsternannte Oppositionsführer zwar über eine Anti-Korruptions-Agenda, aber nicht über eine alternative Programmatik, die Massen mobilisiert, um ein System zu erschüttern, zu dem diese Massen gehören, weil es ihnen eines garantiert: keine Rückkehr in die chaotischen, auszehrenden, menschenverachtenden 1990er Jahre. Dafür bürgt Putin vorläufig noch mehr als jeder andere. Er hat die von seinem Vorgänger, dem in Deutschland geschätzten Boris Jelzin, ererbte Macht der Oligarchen nicht gebrochen, jedoch zum Burgfrieden gezwungen. Auch ein Präsident Nawalny müsste sich gut überlegen, ob er daran rüttelt oder damit lebt. Nicht auszuschließen, dass ihm Entscheidungshilfe zuteilwird, indem die um seine Gunst Besorgten ihm ein Palais im Kaukasus erbauen und sich mit der Ausstattung nicht lumpen lassen.
Auf absehbare Zeit kann kein russischer Staatschef gegen postsowjetisches Ungemach regieren, das einst einen Magnaten wie Michail Chodorkowski dank zügelloser Marktwirtschaft vom Komsomolsekretär zum Ölmilliardär aufsteigen ließ. Das ist keine Entschuldigung für demokratische Defizite, doch eine Erklärung für eine politische Kultur, der es an außerparlamentarischen Akteuren nicht fehlt. Schließlich zählt auch Nawalny dazu.
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