Olaf Scholz kam nicht umhin, vor Tagen in Berlin gegenüber Recep Tayyip Erdoğan dessen Verdienst zu würdigen, 2021 das „Getreideabkommen“ zwischen der Ukraine und Russland vermittelt zu haben. Um der Ehrlichkeit die Ehre zu geben, hätte er hinzufügen müssen: Sie konnten das, weil Sie in Kiew und Moskau gleichermaßen auf Gehör stoßen, wie das unerlässlich ist für solcherart Mediation. Uns bleibt das verwehrt.
Unsere Außenpolitik ist zu parteiisch und zu starr, um Spielräume zu haben, wie sie es Ihnen erlauben, etwas zu erreichen. Leider darf man Scholz nicht einmal zugutehalten, dies wenigstens gedacht zu haben. Dabei könnte der türkische Präsident als Person und Politiker ein Anstoß dafür s
für sein, ihn als Zeitgenossen anzunehmen, der einem aus dem Ruder laufenden Weltgefüge gerecht zu werden sucht. Freilich kann ihm diesen Gefallen nur tun, wer es riskiert, sich selbst zu missfallen.Gruppenfoto mit Mohammed bin Salman, Mahmud Abbas und Ebrahim RaisiEin unvoreingenommener Blick auf Erdoğan kommt nicht umhin, in ihm einen Gegenspieler zu sehen, der internationale Gegenläufigkeit verkörpert, die wiederum auf Gegenmacht, auch zu Deutschland, beruht. Auf dem Gruppenfoto des Sondergipfels von 60 arabischen und islamischen Staaten am 11. November in Riad – anberaumt wegen des Gaza-Kriegs – steht Erdoğan in der ersten Reihe, zusammen mit Gastgeber Kronprinz Mohammed bin Salman, zwischen dem Palästinenser Mahmud Abbas und dem Iraner Ebrahim Raisi. In der 31-Punkte-Erklärung des Treffens wird eine „bindende“ UN-Resolution verlangt für einen sofortigen Stopp israelischer Angriffe auf Ziele in Gaza. Wer sich dem widersetze, sei „einer Komplizenschaft“ schuldig, die es Israel erlaube, „seine brutale Aggression fortzusetzen, die unschuldige Menschen tötet und Gaza in Ruinen verwandelt“.Ob der türkische Staatschef daraus ein Mandat ableitet oder nicht – er vertritt diese Position. Und das im Namen eines der stärksten Mitglieder der NATO. Erdoğan bei der Pressekonferenz in Berlin: „Wir als Türkei sind eines der vorrangigsten Länder der NATO. Wir sind unter den ersten fünf ...“ Gesagt wird das über einen Staat in geopolitischer Schlüssellage, der Europa gegen einen latenten Krisenbogen abschirmt. Entfällt das, weil sich die Türkei mehr als nahöstliche Regionalmacht denn als Außenposten Europas an dessen Südostflanke versteht, hat das Folgen.Den Sicherheitsbedürfnissen der EU werden sie kaum zuträglich sein. Dass Scholz in Berlin gegenüber Erdoğan bekannt hat, man wolle mit der Türkei unbedingt das EU-Migrationsabkommen von 2016 fortschreiben, signalisiert, worum es unter anderem geht: eine für die innere Verfassung der meisten EU-Staaten elementare Frage. Ob man Ankara dafür mehr bieten muss als eine Visumsfreiheit in der EU oder mindestens das, wird sich zeigen.Türkisch-syrischer Modus Vivendi in IdlibIn einer multipolaren Welt bevorzugt Erdoğan seit geraumer Zeit eine Außenpolitik der taktischen Allianzen, wechselnden Partner und der pragmatischen Kooperation. So haben sich Ankara und Moskau für die nordsyrische Provinz Idlib auf den Modus Vivendi geeinigt, dort ein Asyl für islamistische Rebellen zu dulden, die als Kombattanten quasi „stillgelegt“ werden. Das wird nicht auf Dauer so bleiben, kann aber den Krieg in Syrien auf Dauer beenden. Was sollte für ein Land, das so viele Menschen aus Not Richtung Europa verlassen, wichtiger sein?In einer Hinsicht fällt bei Erdoğans außenpolitischem Gebaren eine gewisse Nähe zu deutschen Gepflogenheiten auf – beim Verzicht auf rhetorische Mäßigung, auch wenn Kanzler Scholz bei der bewussten Pressekonferenz sichtlich darum bemüht war. Wer wollte, konnte dies als Rückgriff auf diplomatische Umgangsformen deuten. Was sollte es helfen, Erdoğan öffentlich zu maßregeln?Er verfügt über bessere Möglichkeiten als Deutschland, in der Ukraine nach dem jetzigen zweiten vielleicht einen dritten Kriegswinter zu verhindern. Von anderen Konfliktfeldern ganz zu schweigen. Erdoğan ist eine Politik der moralisierenden Selbsteinschnürung ebenso fremd wie eine der Selbstbeschränkung, beides ist heutzutage durchaus wirkmächtig.