NATO-Generalsekretäre leben zuweilen über ihre Verhältnisse. Auch Jens Stoltenberg ist dagegen nicht gefeit. Er hat angekündigt, die Restkontingente der Allianz (6.000 Soldaten, davon derzeit 1.100 der Bundeswehr) würden Afghanistan sicher nicht bis zum 1. Mai verlassen. Wer oder was autorisiert ihn zu dieser Ansage? Die Entscheidung liegt in Washington, doch im Grunde genommen ist sie bereits gefallen. Ende Februar 2020 haben die USA und die Taliban in Doha, der Hauptstadt Katars, einen als „Friedensabkommen“ ausgewiesenen Vertrag unterschrieben, mit dem als vereinbart gilt, dass ein Abzug aller US- und NATO-Verbände binnen 14 Monaten abzuschließen ist, also bis zum 30. April 2021. Als Gegenleistung haben die Taliban zugesichert, dass Afghanistan nie wieder Refugium für terroristische Verbände sein werde, für Al-Qaida-Filialen so wenig wie für Ableger des IS. Sie erklärten sich überdies bereit, ab Mitte März 2020 mit der Regierung in Kabul über eine Machtteilung zu verhandeln, was ebenfalls in Doha stattfindet, jedoch bisher ohne Ergebnis blieb.
Steht das Junktim Demission ausländischer Truppen gegen Deeskalation bei der inneren Konfrontation zur Disposition, hat sich ein Friedensprozess erledigt. Für die Taliban ist ein Totalabzug nicht verhandelbar. Sie werden es als Affront empfinden, wenn in Frage steht, was geklärt schien. Und sie haben recht. Ihnen ist schlichtweg die Dignität eines Vertragspartners bestritten, wenn sich der NATO-Generalsekretär exponiert und die Biden-Regierung nicht widerspricht. Das degradiert Afghanistan-Diplomatie zur Zwei-Klassen-Agenda. Wer die Taliban derart behandelt, will offenbar dafür sorgen, dass sie wieder in den Krieg ziehen und als erbarmungslose Kombattanten in Erscheinung treten, die keinerlei Verantwortung für die Zukunft Afghanistans verdient haben.
Mit Realpolitik hat das wenig zu tun. Exit-Verträge wie der von Doha sind der Einsicht zu verdanken, dass es für einen Militäreinsatz statt des finalen Triumphs nur einen letzten Ausweg gibt: Man sollte gehen, bevor es noch aussichtsloser wird. Ist das so, kann auf mögliche Nachkriegsordnungen kaum Einfluss genommen werden. Das war nach dem Pariser Abkommen von 1973 für die USA in Südvietnam nicht anders als für die Sowjetunion nach der Genfer Übereinkunft von 1988 über einen Rückzug ihrer Armee aus Afghanistan.
Wird jetzt versucht, die Deadline über den 1. Mai hinauszuschieben, werden die Taliban das als Freibrief dafür betrachten, eigene Verpflichtungen abzusagen, begünstigt durch das zu ihren Gunsten verschobene innere Kräfteverhältnis und die Kontrolle von mittlerweile mehr als der Hälfte des ländlichen Raumes. Gerät Afghanistan dadurch erneut in einen Kriegstaumel, wäre das katastrophal, wegen der absehbaren Opfer wie der Verluste an ökonomischer Substanz, die mehr als prekär ist. Ein ganzes Land würde für die Weigerung der USA wie der NATO in Haftung genommen, eine Niederlage einzugestehen, die zum Abgesang auf die interventionistische Passion des Westens taugt. Am Hindukusch hat sie dazu geführt, dass den Taliban nach 20 Jahren Krieg in einer künftigen Regierung wohl die Macht zufällt, ihren Vorstellungen von einer islamischen Gesellschaft Geltung zu verschaffen.
Je länger versucht wird, diese Perspektive hinauszuzögern, desto unwiderruflicher wird sie. Die Entscheidung der Bundesregierung, die deutsche Präsenz bis Ende Januar 2022 zu verlängern, ändert daran nichts, im Gegenteil.
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