Reingeschlittert ins Verbrechen

Typenkabinett Ein spröder Mathematiker erbt einen Abenteuerpark – und erlebt den „Kaninchen-Faktor“
Ausgabe 45/2021

Dass in diesem nordischen Krimi keine weiß getünchten Holzhäuser an brandungsumtosten Steilküsten auftauchen, ist bereits erfrischend. In Der Kaninchen-Faktor von Antti Tuomainen bewegen wir uns eher in Helsinkis Außenbezirken, Wohnsiedlungen oder sehr abgelegenen Scheunen. Abbruch-Kulisse statt Bilderbuchidyll. Uns wird ein maroder Abenteuerpark vorgestellt – nicht zu verwechseln mit einem Freizeitpark, was zu einem hübschen Running Gag ausgebaut wird – hier tauchen wir mit der Hauptfigur Henri Koskinen als Angestellter einer Versicherung, in die allenthalben exotische Welt der mathematischen Risikoberechnung ein und dürfen einen Zimtgebäck backenden Schwerstverbrecher erleben. Sollte es etwas „typisch Finnisches“ geben, ist es vielleicht diese Ansammlung von Skurrilitäten. Aki Kaurismäkis Werk hat uns diesbezüglich vorbildlich an diese Welt herangeführt, und tatsächlich wirken gewisse Passagen in dem Buch wie Sequenzen aus seinen Filmen.

Kater Schopenhauer

Henri Koskinen, ein Mathematiker aus Selbstschutz gewissermaßen, wird von seinem Konzern „gehen gelassen“. Er passt mit seiner ernsthaften Nüchternheit nicht mehr in die moderne, lockere Unternehmenskultur mit all den flachen Hierarchien und der guten Laune. Als er dann noch von einem Anwalt erfährt, dass sein Bruder infolge eines unerkannt gebliebenen Herzfehlers verstorben ist und ihm eben jenen Abenteuerpark vermacht hat, ist der Weg frei, eine ganz andere Route einzuschlagen. Allerdings in ein sehr schnell, sehr gefährliches Leben. Denn natürlich ist der Park mit Altlasten belastet. Doch wo die Gefahr ist, wächst das Rettende auch, um mit Hölderlin zu sprechen, auch wenn die philosophische Verankerung hier eher von Arthur Schopenhauer besorgt wird – im übertragenen wie im ganz konkreten Sinn. Jedenfalls schafft es Henri noch in den turbulentesten Phasen der Geschichte, seinen Kater Schopenhauer mit Nahrung zu versorgen.

Doch das Rettende taucht hier auch in Form der Kunst auf und Henri, Analphabet der Gefühle, erlebt zwischen konkreten Bedrohungen und dem unbarmherzigen Hineinschlittern in die Kriminalität ein wahres Erweckungserlebnis. Schließlich setzt er sich, in bester Hitchcock-Manier, mit den Werkzeugen seiner Berufung zur Wehr, der Mathematik.

Wenn ich persönlich auch nicht ganz genau verstanden habe, wohin welches Geld von wem wie bewegt wurde, hat das mehr mit meiner buchhalterischen Aversion zu tun, meinem geradezu allergischen Verhältnis gegenüber der Welt der Zahlen, als mit dem erzählerischen Können Tuomainens. Dem Lesespaß tut es jedenfalls keinen Abbruch und wer mit der Materie vertraut ist, wird doppelt Spaß haben.

Die Übersetzung von Niina Katariina Wagner und Jan Costin Wagner umschifft geschickt notorische Genderfragen, bietet brauchbare Lösungen an (die im finnischen Original wahrscheinlich schon angelegt waren). So ist „ein Mädchen“ im nächsten Satz eine sie und kein „es“, Maler werden unaufgeregt im generischen Maskulin aufgelistet, obwohl sie alle Frauen sind, dazu noch weltbekannte. Sprachlich klingt das fast wie ein ironischer Kommentar zum Genderkomplex, beim Entdecken dieser Künstlerinnen blieb ich begeistert lange im Netz hängen.

Alles in allem ist Kaninchen-Faktor ein Buch für lange Winternächte, das es schafft, einen in seiner Sprödheit geradezu außerirdischen Charakter ans Herz wachsen zu lassen. Denn alle anderen Figuren, vom mordenden Handlanger über die wunderbar gezeichneten Angestellten im Park zum unvermeidlichen Polizeibeamten, wirken in ihrer Lebensnähe und ihrem Realismus greifbarer als dieser Henri, der am Ende dann umso heftiger zu „einem von uns“, halt einem Menschen wird.

Der Kaninchen-Faktor Antti Tuomainen Niina Katariina Wagner, Jan Costin Wagner (Übers.), Rowohlt Verlag 2021, 352 S., 16 €

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