Der Tod, den sich Europa verdient

Europäische Union Abscheulich, grotesk, blind, unverantwortlich, armselig: Findet das Attribut, um dieser Tage das Verhalten Europas gegenüber Afrika zu definieren. Von Alessandro Gilioli

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Soll das Europa sein?
Soll das Europa sein?

Foto: Rene Gomolj/AFP/Getty Images

Von Alessandro Gilioli

Ich spreche von ganz Europa, nicht nur von unserem lächerlichen Conte (der im übrigen den Weg von Minniti nur weiter geht). Ich spreche von den überheblichen Macron und Merkel, den Faschistoiden von Visegrád, von den eleganten Nordländern.

Ich spreche von ganz Europa, das sich nicht um Afrika schert – außer dessen Migranten zurückzuweisen –, das wegen der Folgen heult, aber sich einen Dreck um die Ursachen schert, das mit dem gleichen Zynismus mit menschlichen Wesen Ping-Pong spielt – Nimm sie du! Nein, du nimmst sie! –, wie es sich vor hundert Jahren deren Heimat aufgeteilt hatte – Das nehme ich! Nein, ich nehme das! – und sich jetzt noch die natürlichen Ressourcen aufteilt mit Verträgen, mit Stauwerken, der Einfuhr von Waffen, mit Lagerstätten, mit Ausschreibungen – Das nehme ich! Nein, ich nehme das!

Alessandro Gilioli (geboren 1962 in Mailand) ist Autor, Journalist und Blogger. Sein Blog „Piovono Rane“ (es regnet Frösche), für den er zahlreiche Preise erhalten hat, wird seit Dezember 2005 auf der online-Plattform des Magazins „L’Espresso“ veröffentlicht.

Der Beitrag ist im italienischen Original am 29.6.2018 unter dem Titel „L'Europa muore e se lo merita tutto“ erschienen. Übersetzung mit freundlicher Gestattung des Autors: ms

Scheißeuropa oder besser: Beschissene europäische Staaten und Regierungen, ohne jede Ausnahme, die alle heuchelnd vergessen (oder vergessen machen!), dass wir bei jenen zuerst zu Besuch waren, nicht unbewaffnet, nicht um zu überleben, sondern um uns zu bereichern, um sie zu bestehlen, um sie zu versklaven und sie zu den amerikanischen Kontinenten zu schicken, um Business und Diktatoren zu installieren, um sie schließlich des Erdöls, des Goldes und des Bauxits zu berauben.

Beschissene Staaten Europas sind das, die jetzt auf die Migranten schauen (weg, weg!) und nicht auf Afrika, nicht auf das, was sie tun könnten – müssten –, um wenigstens ein paar Schäden zu reparieren, Wunden zu lindern und Massaker einzudämmen, es wäre ja noch schöner: Der berühmte und oft versprochene „Marshall-Plan“ – moralisch so geschuldet wie er auch der einzige pragmatische Weg wäre, um den Blick auf das Gewässer namens Mittelmeer gemeinsam werfen zu können – steht in keinem einzigen Staathaushalt und erst recht in dem der sogenannten Union.

Überhaupt: Union von was, bitte? Das Einzige, worüber Einigkeit besteht, ist die unsrige als eine Notlage zu identifizieren, während sich andere in einer lebensbedrohlichen Lage befinden, ist die Ablehnung auch nur des Gedankens, dass wir dazu die (Mit-)Ursache sind, ist die Zurückweisung der Verzweifelten, indem wir vorsätzlich die Augen vor den Ursachen dieser Verzweiflung verschließen.

In der Schule hatten sie uns die europäischen Ideale beigebracht – Manifest von Ventotene, Altiero Spinelli, dann auch das Eramus-Programm –, und doch befinden wir uns heute in einer Union, die nur auf dem Egoismus jedes Staates gegen den anderen gründet und alle Staaten gegen das, was außerhalb steht.

Ein solches Europa wird sterben, tatsächlich stirbt es schon: Weil es sich auf Unwerte gründet, auf Engstirnigkeit, auf Lügen – eine pathetische und gigantische Rauferei von Miteigentümern, in deren Versammlungen das einzige Ziel lautet, die geschuldeten Beiträge nicht zu zahlen. Und wenn es schließlich doch etwas zu zahlen gibt, soll das der Nachbar tun, nicht ich.

Ein solches Europa wird sterben, ein Europa das beschissene Ursachen setzt und ebenso beschissene Folgen zu tragen haben wird: Gegen die Folgen wird es keine Mauer geben, die hält, weder an Land noch auf dem Meer, weder hier noch sonst wo.

Ein solches Europa wird sterben, tatsächlich stirbt es schon. Diesen Tod hat es sich dann zur Gänze verdient.

Übersetzung: Marian Schraube
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marian Schraube

"Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seiner Einladung, sich ihm anzuverwandeln, widersteht." (C. Emcke)

Marian Schraube

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