Zwischen Dienstleistungsdenken und Aktivismus: Universitäten in der Krise
Hochschule Credit Points, Module, „Kompetenzorientierung“: Der Bologna-Prozess war ein Desaster für die Bildung. Das Seminar ist nur noch selten ein Ort des Dialogs
Das waren noch Zeiten: das Soziologische Seminar 1969 an der Universität Frankfurt am Main
Foto: Max Scheler Estate/Agentur Focus
Was ist eigentlich an den Universitäten los? Trotz der anhaltenden Diskussionen über Drittmitteldruck, Konformismus und Cancel Culture wird an den Universitäten immer noch geforscht, verwaltet und gelehrt. Ich selbst lehre an der Universität Duisburg-Essen Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. Als ich jüngst in dieser Zeitung eine Reihe von Porträts einstiger professoraler Querköpfe las (der Freitag 5/2023), musste ich an die Lehrenden denken, die mich einst selbst geprägt haben.
Es waren dies Figuren wie der Germanist Paul Hoffmann an der Universität Tübingen, dessen Vorlesungen und Seminare eher Meditationen glichen. In den Lehrveranstaltungen dieses kleinen Mannes, der in den 1930er-Jahren aus Deutschland hatte fliehen müssen, wurde
rsität Tübingen, dessen Vorlesungen und Seminare eher Meditationen glichen. In den Lehrveranstaltungen dieses kleinen Mannes, der in den 1930er-Jahren aus Deutschland hatte fliehen müssen, wurde der akademischen Jugend die Lyrik eines Hugo von Hofmannsthal und eines Stefan George nahegebracht. Dem Studenten, der ich damals war, wurde klar: Lehre ist der Ort in der Universität, an dem ich eine elementare und existenzielle Erfahrung mit der Sprache der Literatur machen kann.Mit Didaktik hatte diese Lehre freilich nichts zu tun. Was Hoffmann tat, so scheint es mir heute im Rückblick, war, die Lehre in etwas zu verwandeln, was heute nicht mehr vorkommt: literaturwissenschaftliche Lehre als Ort der unbedingten und existenziellen Begegnung mit der Sprache. Was Paul Hoffmann lehrte, war die Essenz von Literatur, er lehrte ihr Schweigen, indem er selbst schwieg, er inszenierte Literatur als die Suche nach dem rechten Wort, an dem alles hängt. „Kein Ding sei, wo das Wort gebricht“, heißt es in Stefan Georges Das neue Reich. Das galt eben auch für die literaturwissenschaftliche Lehre eines Paul Hoffmann.Verworfene IdealeIch möchte diese Erfahrung in zwei großen Schritten umkreisen. Zunächst wird gefragt, was sich eigentlich im Design von und Diskurs über Lehre geändert hat, das Erfahrungen, wie ich sie in Tübingen gemacht habe, verhindert. Dabei wird der Bologna-Prozess als Kontrastprogramm zur Erfindung der Humboldt-Universität zu Berlin eine Rolle spielen. Dann wird die Figur des Aktivisten analysiert, mit dem die Veränderungen im universitären Lehrmilieu beschrieben werden. Er ist ein Störer der Lehre. Aktivist*innen haben offensichtlich den Sinn der Lehre, der in der Freiheit in der Fragens und des Antwortens besteht, nicht verstanden.Ich lehre leidenschaftlich gerne. Ich freue mich jedes Semester darauf, immer wieder junge Leute kennenzulernen und sie auf den ersten Schritten in einen neuen Lebensabschnitt zu begleiten, der ein Studium ja auch immer ist. Ich schätze die Lehre nicht nur als Ort der Wissensvermittlung, sondern vor allem als Ort, an dem der Dialog der Generationen stattfindet. In einem seiner letzten öffentlichen Auftritte in Berlin im Juli 2011 (er starb im Oktober 2011) spricht der in jener Freitag-Reihe porträtierte Friedrich Kittler über die Lust am Lehren und Lernen und über die Universität als Ort des Dialogs der Generationen. Das entscheidende Wort in Kittlers Ansprache ist das Wort „paedeia“. Es meint nicht nur den Wissenstransfer von einer Generation zur anderen oder den Normentransfer, es meint auch nicht nur Erziehung. Es beschreibt vielmehr das Lehren und Lernen zwischen den Generationen, also ein wechselseitiges Aufeinander-Hören und Voneinander-Lernen. Der Dialog der Generationen ist Kern von Bildung und von universitärer Lehre.Um zu verstehen, warum es in der Universität einerseits einen Groll gegenüber der Lehrverpflichtung, aber andererseits auch Formen empathischer Lehre mit charismatischen Lehrpersonen gibt, muss ich ein wenig zurück in die Geschichte der universitären Lehre gehen. Sie beginnt 1809 in Berlin. Mit der Humboldt’schen Reform wurde eine Neudefinition der universitären Lehre eingeleitet. Die universitäre Lehre hat nunmehr nicht mehr die Aufgabe, Wissensvermittlung zu betreiben. Sie soll – unter der Ägide eines Ideals der Bildungsfähigkeit aller Menschen – Bildung in der und durch die Wissenschaft ermöglichen.Die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Sachverhalten dient also nicht mehr nur einseitig der Vermittlung des jeweils aktuellen Standes der Wissenschaft, sondern in der Lehre soll gerade dieser Stand der Wissenschaft infrage gestellt werden. Der Universitätsunterricht geht immer aufs Ganze; er behandelt nicht nur Segmente des Wissens, sondern hat stets die Aufgabe, die innere „Einheit der Wissenschaft“ zu repräsentieren, sie an die folgende Generation zu vermitteln, also das, worum es beispielsweise in der Literatur und ihrer Wissenschaft geht. Die Universität soll ein grenzenloses Erleben von Wissenschaft ermöglichen, das den Studierenden durchs Leben trägt: Es geht vor allem darum, dass die Antworten von heute auf wissenschaftliche Fragen die Fragen von morgen sein können. Nichts ist sicher, alle Ergebnisse sind hinterfragbar, die Lage stets volatil.Arbeitsmarktbefähigung und KompetenzentwicklungDer hohe Anspruch, den die Organisation Universität dereinst an die universitäre Lehre stellte, ist heute größtenteils vergessen. Dieses Vergessen hat nun vielerlei Gründe. Einer der Gründe findet sich ausnahmsweise nicht in Berlin, sondern in Bologna. Der Bologna-Prozess ersetzt die Wissenschaftsorientierung der universitären Lehre durch eine Anpassung an gerade nicht wissenschaftliche Parameter. Arbeitsmarktbefähigung und Kompetenzentwicklung wären so Parameter, mit der die Leistungen in der Lehre gemessen werden.Im Zentrum der reformierten Lehre steht also nicht mehr die „Idee“ von Wissenschaft, sondern die „Kompetenz“ der Studierenden, die diese in Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Gegenständen entwickeln. Die Studierenden sind so nicht mehr aktiver Teil von Erkenntnisproduktion, sondern Abnehmer*innen von universitären Dienstleistungen. Das Problem ist: Nur mit Inhalten des jeweiligen Faches kann man Erfahrungen machen, mit Kompetenzen oder Dienstleistungen aber nicht. Für den Bologna-Prozess sind die Studierenden aber nicht als Personen interessant, deren hoch individualisierte Persönlichkeitsbildung im Mittelpunkt der universitären Prozesse steht, sondern als neoliberales Subjekt, dem unterstellt wird, es wolle während des Studiums Humankapital akkumulieren.Man muss ganz allgemein den Eindruck bekommen, in Bezug auf die Studierenden werde gar nicht mehr von Universitätsmitgliedern gesprochen, sondern von Konsument*innen, die Universitätsdienstleistungen in Form von Lehre, Prüfungen und Mensarabatt in Anspruch nehmen. Ein Mitglied der Universität, ob studentisch oder professoral, ist aber, das sollte bekannt sein, niemals Kunde.Diese Reformen und Vorstellungen ändern natürlich das universitäre Milieu, in dem Lehre stattfindet. Mit dem Begriff des Milieus werden Wechselwirkungen zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Person und Organisation beschrieben. Die Universität stellt dabei idealerweise ein Milieu dar, in dem sich die Entwicklung des Selbst mit der Entwicklung der Formen, in denen sich diese Entwicklung vollzieht, versöhnen lässt. Man nennt dies auch Bildung.Verzaunte DebattenDie Universität erscheint heutzutage nicht als ein Milieu, sondern als Ort heterogener Milieus, die, wenn sie sich nicht gegenseitig ignorieren, doch sehr wenig voneinander wissen. Die Universität ist, soziologisch und historisch gesehen, eine Aufstiegsinstitution, sie ist immer ein Motor sozialer Mobilität gewesen. Dieser Aufstieg geschieht, mit Pierre Bourdieu gesprochen, durch Anpassung nach oben, also als Anpassung an den akademischen Habitus. Karriere in der Universität ist, so gesehen, Assimilation an das Fremde und Höhere, an das Akademische.Dieser Assimilationsdruck gilt für Studierende wie für Lehrende. Für das Milieu, das innerhalb der Universität aufsteigt oder aufsteigen soll, bedeutet dies, die Anforderungen, die das Eigene oder die Herkunft stellen, mit den Anforderungen des Fremden in Einklang zu bringen. Aufstiegsmilieus können sich selbst schnell fremd werden, weil sie ihr Woher nicht mit dem Wohin beziehungsweise dem Status quo in Einklang bringen können.Lehre aber ist genau der Ort, an dem ich diese Entfremdungserfahrung machen kann. Wer aber nur Bestätigung des Eigenen sucht, befindet sich jenseits der von Wissenschaft und Bildung. Es ist der elementare Kern von Bildungsprozessen, sich durch den Kontakt mit künstlerisch-kulturellen Gegenständen verändern zu lassen. Dies setzt Offenheit und Veränderungsbereitschaft voraus. Der Provinzialismus der Identitätspolitik, in der allein zählt, wer man ist oder glaubt zu sein, und weniger das, was man sagt, führt zu einer Verzäunung von Debatten und zu einer Einschränkung der Möglichkeiten von Lehre, die Studierenden mit dem zu konfrontieren, was sie gerade nicht sind.Eine der prägenden Figuren der gegenwärtigen Universität ist der/die Aktivist*in. Die Protagonist*innen des Aktivismus bilden eine Überzeugungsgemeinschaft. Lehre wird dann Einübung in aktivistische Verhaltensweisen, also Disziplinierung. Es ist daher fatal, wenn die aktivistische Person Selbstreflexion und kritische Distanz zu sich selbst einfach ausschaltet.Dabei wäre die Lehre, die, wie gesagt, die Antworten von heute in die Fragen von morgen verhandelt, der geeignete Ort, um solche eine Distanzierung und Reflexion vorzunehmen. Ein Seminar zur politischen Lyrik des zwanzigsten und des einundzwanzigsten Jahrhunderts wäre so ein Ort, die Risiken für die ästhetische Autonomie jedes Kunstwerks zu reflektieren, die unweigerlich entstehen, wenn in einem aktivistischen Modus gelesen oder geschrieben wird. In der Soziologie nennt man ein solches Unterfangen Rollenreflexion.Placeholder authorbio-1