Die Schwäche des Systems ist älter als Corona

Bildung Rechtzeitige Notenvergabe und das Durchpeitschen eines Lehrplans sind schon vor der Krise zum Selbstzweck geworden
Ausgabe 05/2021
Dank der Covid-Maßnahmen kann nun niemand sein Kind zur Schule schicken, und schon echot es aus den mit nie gelesenen Bildungsklassikern ausgestatteten Wohnzimmerbibliotheken: Eine verlorene Generation!
Dank der Covid-Maßnahmen kann nun niemand sein Kind zur Schule schicken, und schon echot es aus den mit nie gelesenen Bildungsklassikern ausgestatteten Wohnzimmerbibliotheken: Eine verlorene Generation!

Foto: Westend61/Imago

Die Rede von der Bildungsmisere geistert seit Jahrzehnten durchs Land. Die Diagnose variiert, aber klar ist, dass das Schulsystem wie aus der Welt, oder besser: der Gesellschaft, gefallen scheint. In der heterogenen Migrationsgesellschaft verlegt sich dieses System darauf, Kinder von Migranten und „Bildungsfernen“ von vermeintlich leistungsstarken Kindern zu trennen; damit ist noch nicht alles gut, Mittelschichtseltern maulen, aber wenigstens muss man sein Kind nicht auf eine Schule schicken, deren „Ausländeranteil“ bei 80 Prozent liegt, so die zynische Logik. Den Rest erledigt der Markt für Privatschulen und Nachhilfeunterricht.

Dank der Covid-Maßnahmen kann nun niemand sein Kind zur Schule schicken, und schon echot es aus den mit nie gelesenen Bildungsklassikern ausgestatteten Wohnzimmerbibliotheken: Eine verlorene Generation! Wer zuvor Erfahrungen damit machte, wie das Schulsystem Kinder mit Lern- und Leistungsschwächen in Sonder- und Förderschulen aussortierte, der zuckt angesichts der derzeitig „katastrophalen“ Bildungssituation eher mit den Schultern.

Vielleicht – man wird ja noch hoffen dürfen – ist die Krise eine Chance für Solidarität der Eltern verschiedener Klassen? Weil sie nun allesamt gleichermaßen überfordert sind mit den Ansprüchen eines Systems, für das die rechtzeitige Notenvergabe und das Durchpeitschen eines Curriculums zum Selbstzweck geworden ist, Pandemie hin oder her? Es wirkt wie ein unverrückbares Naturgesetz, dass Noten vergeben werden müssen. Dass Katja ihre Faust-Interpretation aus Lektürehilfen zusammenkopieren und garantiert misslingende Physik-Experimente am heimischen Schreibtisch durchführen muss. Und verdammt noch mal, wie soll der kleine Hendrik ohne Wissen um den Glukosestoffwechsel seinen Weg in der mittleren Angestelltenlaufbahn machen?

Plötzlich wird man noch einmal auf ganz andere Art mit Sinn und Unsinn unseres „Bildungssystems“ konfrontiert, das sich nicht entscheiden kann, ob es nun einem „klassischen“ Bildungsideal folgen oder sich doch lieber den Anforderungen des sogenannten Marktes beugen will, und am Ende keines von beiden leistet: Ausbildungsunfähige Hauptschüler und an Studienanforderungen scheiternde Abiturienten hätten uns seit Langem ein Warnsignal sein sollen, aber Lehrer und Eltern wollten alles, nur keine weitere Schulreform. Kein Wunder, diese versuchten im bestehenden System zu reformieren. Das scheitert ja aber an Grundsätzlichem.

Von mangelnden Internetanschlüssen und Notebooks müssen wir gar nicht mehr reden, aber nun, wo wir Eltern pandemiebedingt die Schulbücher unserer Kinder aufschlagen und uns Rat bezüglich möglicher Lösungswege erhoffen (wie war das noch mal mit dem schriftlichen Dividieren?), müssen wir erstaunt feststellen, dass auch das Standardmaterial zum Lernen nicht taugt. Vielleicht bin ich nicht das einzige Elternteil, das beim Blick in die Lehrbücher des Kindes verzweifelt, weil es weder Struktur noch Logik in der Aufbereitung des Lehrstoffs erkennen kann.

Noch einmal zurück zu den Unterrichts- und Schulreformen: Eine schöne und gleichermaßen traurige Pointe der Krise ist, dass sich der „gute“ alte Frontalunterricht noch am ehesten als Teleunterricht fortsetzen lässt – Jan Böhmermann persiflierte es in der ersten Episode des ZDF-Magazins dieses Jahres. „Jetzt bitte eure Aufgabenblätter ausfüllen“, solch einen Lehrer kann man problemlos via Zoom oder vielleicht sogar im Rahmen eines Schulfernsehprogramms zuschalten. Den Lehrern, die seit Jahrzehnten auf dieser Methode beharren, wird es eine zweifelhafte Genugtuung sein.

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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