Laien staunen, Fachleute wundern sich. Das gilt auch für die befremdliche Intensität der Debatten der Geschichtswissenschaftler. Eine Historikerin, die ein Gespür hat für Themen, die Historikerkollegen unter die Haut gehen, ist Katja Hoyer. Die Deutsche, die seit mehr als einem Jahrzehnt in Großbritannien arbeitet, schlug bereits mit ihrem letzten Buch Diesseits der Mauer (der Freitag 23/2023) große Wellen in ihrer Zunft, weil Hoyer die DDR-Geschichte nicht mehr nur als Diktaturgeschichte lesen wollte.
Auch ihr neues Buch Im Kaiserreich. Eine kurze Geschichte 1871 – 1918 stellt einen Bruch mit traditionellen Sichtweisen des Faches dar. Hoyer hinterfragt die wohletablierte Zwangsläufigkeitserzählung, wonach die Geburtsfehler des letztlich durch K
ichtweisen des Faches dar. Hoyer hinterfragt die wohletablierte Zwangsläufigkeitserzählung, wonach die Geburtsfehler des letztlich durch Kriege geeinten Reiches mit seinem Militarismus und autoritären Monarchismus geradezu zwangsläufig in den Ersten und Zweiten Weltkrieg geführt hätten. Noch einmal staunt der Laie: Als sei Geschichte nicht reich an potenziellen Wendepunkten.Die Theorie vom „Sonderweg“Hoyer dagegen erzählt den Weg zum Kaiserreich als Erwachen einer bürgerlich-liberalen Gegenöffentlichkeit, die es wagt, Forderungen an die Obrigkeit zu stellen, die mithin gerade nicht obrigkeitstreu und unmündig ist. Dass die bürgerliche Revolution von 1848 scheiterte und sich Deutschland eben keine demokratische Verfassung gab, sondern eine, die die zentralen Fäden der Macht in der Person des Kaisers (und dessen Strippenzieher Otto von Bismarck) zusammenlaufen ließ, das galt stets als unauslöschlicher Makel: „Die Theorie vom ‚Sonderweg‘, nach der Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Nationen einem einzigartigen historischen Pfad folgte, gilt mittlerweile als weitgehend widerlegt. Aber immer noch betrachten viele die Reise von Bismarcks Deutschland zu Hitler und dem Holocaust als eine direkte Linie.“Zwar habe das von Bismarck kreierte System innen- wie außenpolitisch zahlreiche Mängel besessen und Spannungen kreiert. Doch Bismarck war das nahezu unmögliche Unterfangen, die konträren Anliegen verfeindeter politischer Strömungen unter einer Verfassung zu einen, immerhin jahrzehntelang geglückt. Nicht die demokratischen Mängel selbst hätten zur Krise des Systems geführt, sondern der fatale Zuschnitt desselben auf seine Person. Hoyer liefert das Psychogramm eines Mannes, der das Kaiserreich – paradoxerweise stärker als die Kaiser selbst – verkörpert. Politische Ränkespiele, Hinterzimmerdiplomatie, Taschenspielertricks und Lügen: Bismarck schillert als eine (auch physisch präsente) Figur à la House of Cards oder Borgen. Der Junker ist mit allen Wassern gewaschen; und als sich Wilhelm II. des Steuermanns an Bord entledigt, gerät das auf Bismarcks Person zugeschnittene System in eine unkontrollierbare Schieflage.Dass dieses Buch, das komplexe gesellschaftliche, ökonomische und politische Entwicklungen verdichtet, den Laienleser nicht erschlägt, verdankt sich Hoyers klarer Sprache und einem erstklassigen Gespür für die Erzählgeschwindigkeit. So finden sich Raffungen und Zeitdehnungen, analog zum Film gedacht: Totalen und Großaufnahmen. Damit reiht sie sich ein in eine lange Liste angelsächsischer Historiker, die Meister des populären Sachbuchs sind (man denke etwa an Christopher Clark). Nie hat man das Gefühl, dass zugunsten der Lesbarkeit vereinfacht wird. Tatsächlich werden wohlbekannte Fakten durch Hoyer neu kontextualisiert: Die Geschichte wird damit komplexer.Diese ungeheure technologische DynamikHoyer geht etwa auf die ökonomischen Entwicklungen der Jahre nach der Reichsgründung ein (die im Geschichtsunterricht unter den Tisch fallen). Die junge Nation boomt dank technologischer Fortschritte, wissenschaftlicher Erkenntnisse und einer enormen Bevölkerungsexplosion; „neureiche“ Bevölkerungsteile konkurrieren mit alten Eliten. Politisch wie gesellschaftlich ist die junge Nation äußerst dynamisch; doch bereits 1873 stürzt „die große Depression“ Abertausende Arbeiter in existenzielle Not. Die Befriedung der immensen sozialen Spannungen wird damit zu einer Hauptaufgabe Bismarcks, auf die er bekanntlich mit seiner Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik reagierte: die Anfänge eines Sozialstaats, der immerhin basale soziale Absicherung versprach, bei gleichzeitigem Vorgehen gegen die sozialistische Bewegung mithilfe der Sozialistengesetze.Langfristig konnte das den Zuspruch zu den Arbeiterparteien nicht schmälern. Die SPD brachte es 1877 bereits auf 9,1 Prozent der Stimmen. Auch die neu entstandene Mittelschicht erholte sich nur schwer vom Schock des plötzlichen wirtschaftlichen Einbruchs. Das Vertrauen in Kapitalismus und liberale Ideale war erschüttert, mit weitreichenden Folgen. In allen tiefgreifenden Krisen boomt die Sehnsucht nach der guten alten Zeit: nach Tradition, Autoritätsfiguren und rückwärtsgewandten Gesellschaftsbildern.Hoyer zeigt also ein fragiles System, das innenpolitisch an den Fliehkräften der gesellschaftlichen Entwicklungen, die es erst ermöglichten, zu zerreißen droht, während die europäischen Nachbarn besorgt auf den wirtschaftsstarken Koloss im Zentrum Europas blicken. Dieser ist, so macht es Hoyer deutlich, eben nicht nur aufgrund seines Militarismus und wachsenden Nationalismus eine Bedrohung, sondern gerade auch wegen seiner ungeheuren technologischen Dynamik. Ganz so, als wäre mit der Reichsgründung ein Knoten geplatzt.Der Journalist Peter Watson nennt diese Phase in seinem Buch German Genius „Europas dritte Renaissance“; tatsächlich wird die wissenschaftliche Potenz Deutschlands im frühen 20. Jahrhundert nicht nur in einer Rekordzahl von Nobelpreisen kulminieren, sondern auch in der Entwicklung tödlichster militärischer Waffen. Als hätte die politische Unterdrückung wie ein Steroid auf alle anderen Teilbereiche der Gesellschaft gewirkt. Dabei hätte die Demokratie ein Stärkungsmittel dringend nötig gehabt.