In Krisenzeiten wundert es nicht, dass im Publizismus die Frage nach Gut und Böse trendet, also die Frage nach der Moral. Da ist etwa der Philosoph Hanno Sauer, der in seinem Beststeller Moral. Die Erfindung von Gut und Böse (2023) den ganz großen Bogen schlägt und seine Geschichte des Homo sapiens als Werte-Wesen in ein optimistisches Menschenbild münden lässt. Das ist bemerkenswert, denn häufiger sind im Deutschland der frühen 2020er Bücher, die jene Gut-Böse-Frage mit teils drastisch negativem Beiklang aufwerfen, sie also als „Moralismus“ oder „Moralisierung“ verhandeln. Da sind dann, nur eine Auswahl, Titel wie: Michael Lüders’ Moral über alles? (2023), Michael Andricks Im Moralgefängnis (202
Moralgefängnis (2024), Norbert Bolz’ Keine Macht der Moral! (2021) und Kai Ambos’ Doppelmoral (2022).Man sieht hier ziemlich viele Ausrufezeichen, die nach belastbarem Material verlangen. Das verspricht Frank Trentmanns Aufbruch des Gewissens (2023). Diese monumentale Geschichte der Deutschen von 1942 bis heute bewegt sich zwischen zugespitzten Gegenwartsdiagnosen und jener menschheitsgeschichtlichen Großerzählung. Ausgehend von 1942 – als Stalingrad lehrte, dass man den Krieg verlieren und moralisch für ihn zur Verantwortung gezogen werden würde – versucht sich dieses Buch an einer mehrdimensionalen Mentalitätsgeschichte.Eine plötzliche HeiligungEs fragt nach den Herkünften und Verschiebungen von, aber auch nach Deals zwischen moralischen Horizonten in Feldern wie Nazi-Reich, Krieg, große Politik, aber auch Wirtschaft, Umwelt, Engagement etc. Dass nicht „Moral“, sondern „Gewissen“ im Titel der deutschen Version des Buches steht, das auf Englisch Out of the Darkness heißt, zeigt an: Es soll zunächst um Beschreibung gehen. Denn der Blick auf das Gewissen eröffnet einen empirischen Zugang zur Moraldebatte: Er fragt, wie Menschen wann mit ihrem Handeln ins Reine kamen, statt an diese historischen Formen des Managements der Gut-und-Böse-Frage selbst schon den Maßstab von Gut und Böse zu legen.Man kann sich vorstellen, wie Trentmann – in Hamburg geboren, aber akademisch in England und den USA beheimatet – anno 2015 auf dieses Großvorhaben kam. Außerhalb der Bundesrepublik brandete damals gerade eine erste Debatte über einen neuen deutschen Moralismus auf, deren Fragen und Thesen auch in den heutigen Diagnosen stecken: Wieso nahmen plötzlich ausgerechnet die Deutschen Millionen Flüchtlinge auf? Waren „aus einem Volk von Sündern“ plötzlich „Heilige“ geworden? Wie passte das zu Deutschands Rolle als hartherziger Zuchtmeister in der Euro-Krise? Rührte dieser neue Moralismus „von der Mülltrennung bis hin zur Hilfe für die Armen dieser Welt“ aus „schlechtem Gewissen“? Folgte auf die Vergangenheitsbewältigung neue „Selbstgefälligkeit“, gar ein „moralischer Imperialismus“?Der deutsche Historiker wird in seinen anglophonen Umfeldern auf all das angesprochen worden sein. Es zeugt von professioneller Neugier, dass er sich eine ausführliche Antwort vornahm, obwohl er bis dahin wenig zur deutschen Geschichte publiziert hatte. Wo fand tatsächlich ein „Prozess einer fundamentalen Moralisierung“ statt? Wo fußte dieser in der NS-Aufarbeitung, wo hatte er andere Herkünfte, wo brach er vielleicht ab?Trentmanns Buch hat viele Stärken. In der plastischen Sprache, die für die angelsächsische Geschichtswissenschaft typisch ist, bearbeitet er eine breite Quellenbasis, die dem notorischen Spekulationsverdacht gegen die Mentalitätsgeschichte den Wind nimmt: Nicht nur explizierte Äußerungen sagen etwas darüber, was Menschen so im Kopf haben – und auch nicht nur Briefe, Schülerzeitungen, Plakate, Spruchbänder, Gerichtsurteile, Besinnungsaufsätze von Offiziersanwärtern und so weiter, sondern auch bestimmte Konsumgüter.Über weite Strecken findet das Buch auch eine gute Mischung von Befindlichkeits- und Realgeschichte – ohne zweitere lässt sich erstere ja kaum betreiben, da politische Ereignisse die Frage, wie Menschen ihr Verhältnis zu Gut und Böse bestimmen, in immer wieder neue Rahmen setzen, ohne dass freilich diese Rahmen die Mentalitäten einfach determinieren. Dem Buch lässt sich etwa entnehmen, wie sich mit dem jähen Einsetzen des Kalten Kriegs in West- wie Ostdeutschland ein Bewusstsein über das schlechte Gewissen legte, immerhin auf der richtigen Seite zu stehen. Das hätte der Auseinandersetzung mit dem Nazireich förderlich sein können, ließ diese nach einem emotionalen Aufschlag unmittelbar nach dem Krieg – exemplarisch widmet sich Trentmann der „Rede an die deutsche Jugend“, die der damals prominente Schriftsteller Ernst Wiechert 1945 in München hielt –, in den 1950ern, aber wieder in den Hintergrund rücken.Plastisch rekonstruiert das Buch auch die Karriere jener moralischen Vorstellungen wirtschaftlichen Handelns, die Deutsche in den 2010er Jahren dazu brachten, eine „globale Liquiditäts- und Schuldenkrise“ zum „Anlass für ein Sittenspiel“ zu nehmen – obwohl das sogenannte Wirtschaftswunder keineswegs bloß auf harter Arbeit und Sparsamkeit beruhte, sondern auf staatlichen Aufbauprogrammen sowie dem drastischen Schuldenschnitt von 1948.Wiewohl man einige Darstellungen zur DDR holzschnittartig finden kann, ist das Buch bis etwa zur Wiedervereinigung überzeugend. Danach aber fällt es teils deutlich ab. Das zeigt sich in einer Häufung leichter Fehler: Es stimmt etwa nicht, dass in Westdeutschland heute im Unterschied zum Osten das Wohneigentum dominiere. Gravierender ist, dass sich eine normative Haltung einzuschleichen beginnt. Je mehr sich das Buch dem Heute nähert, desto mehr neigt es dazu, jenes Management von Gut und Böse nicht nur zu analysieren, sondern zu bewerten. Wenn man aber urteilen will statt nur verstehen, trübt sich der Blick für Abwege und Spezifika.Der Krieg der AltruistenDas gilt zumal für die Frage von Krieg und Frieden, auf die sich das Buch wohl aus Aktualitätsgründen gegen Ende fokussiert. Trentmann lässt keinen Zweifel daran, dass er die militärische Zurückhaltung Deutschlands missbilligt, im Allgemeinen wie im Ukraine-Krieg. Europas Mittelmacht – ökonomisch ein Riese, politisch ein Zwerg – stelle stets schnöde Außenhandelsinteressen über die Moral. „1999 erklärte Bundespräsident Horst Köhler“, schreibt Trentmann beipflichtend, „das Land könne nicht länger nur die Menschenrechte einfordern, es müsse auch für sie kämpfen. Was folgte, war: ‚Wandel durch Handel‘.“Wie immer man zu Auslandseinsätzen steht: Wäre nicht interessanter, warum Köhler – ab 2004 im Amt – 2010 zurücktrat? Er hatte in kleiner Runde angedeutet, dass Staaten Machtmittel inklusive der Truppen eben nicht nur für die Menschenrechte einsetzten, sondern für ihre Interessen. Was überall sonst eine Selbstverständlichkeit ist, sorgte hierzulande für eine Riesenempörung, an deren Ende er abtrat.Erstaunlicherweise greift Trentmann diese Episode nicht auf, die man im Ausland kaum erklären konnte. Woher rührt diese deutschlandspezifische, quasi altruistische Moralisierung des Militärischen? Womöglich diffundierte sie von den Rändern in die Mitte: In erheblichen Teilen jener Post-68-Alternativszene, die später die eine Art Konsens-Liberalismus hervorbrachte, gehörte die Forderung nach Waffen für El Salvador oder Nicaragua zum guten Ton. Hatte der seltsame Aufschrei gegen Köhler darin eine Herkunft? Ist jene bewegungstypische Emotionalisierung und Moralisierung, jene Verachtung der Realpolitik, von der Bolz in Keine Macht der Moral! schreibt, hegemonial geworden?Das Buch darüber muss noch geschrieben werden, denn Trentmann bearbeitet jenes Milieu zwar ausführlich, fragt aber nicht nach solchen Fortschreibungen. Lüders hingegen zeigt in eine solche Richtung, wenn er in seiner außenpolitischen Zeitdiagose Moral über alles? warnt, es drohe sich in Deutschland ein gesinnungsethisches Reden über Krieg und Frieden Bahn zu brechen, das die Frage nach Interessen schon fast zur Verschwörungstheorie erklärt und Konflikte als rein moralisch übernimmt, die sich um die Interessen anderer drehen, etwa der USA gegenüber China.Als Trentmann sich 2015 an sein Buch setzte, ging in den Geisteswissenschaften eine „Challenge“ um: Deine Forschung in einem Satz. Andrick, Bolz und Lüders würden sagen, dass sich die Deutschen durch Übermoralisierung ausbremsen und gefährden. Trentmanns Antwort wäre eher: Die Deutschen sind nur halb so moralisch, wie sie reden. Zumindest in manchen Fragen mag man hoffen, dass er recht hat. Denn Moral macht wenig Kompromisse, Interessen aber bestehen daraus.Placeholder infobox-1
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