Das eigentliche Problem mit der Moralisierung von heute
Debatte Das „Gift der Moralisierung“, hat Michael Andrick neulich hier geschrieben, zerstöre unsere Gesellschaft. Falsch, sagt Michael Jäger – sie weicht aber den wirklich wichtigen moralischen Fragen aus
Moralischer Rückwärtssalto: Für das Zeigen von Michelangelos „David“ wurde in den USA eine Lehrerin gekündigt
Foto: Pond5 Images/Imago Images
Der Diagnose von Michael Andrick, dass mit der Moral etwas falsch läuft in unserer Gesellschaft, stimme ich sofort zu. Nur sehe ich nicht, dass er auch sagen kann, was falsch läuft, und auch sein analytisches Instrumentarium scheint mir nicht griffig zu sein. „Das Gift der Moralisierung“, sagt er, werde dann ausgespritzt, wenn eine Frage, die gar keine Moralfrage sei, in eine solche „unnötig“ „umgedeutet“ werde. Da fragt man sich gleich: Wer entscheidet denn, ob die Behandlung einer Frage als Moralfrage „unnötig“ ist oder nicht? Andrick meint, es gebe ein Kriterium: „Eine moralische Frage erkennen wir daran, dass wir sie nicht mit dem Verweis auf irgendjemandes Festlegungen beantworten können.“ Es ist wahr
t mit dem Verweis auf irgendjemandes Festlegungen beantworten können.“ Es ist wahr, an dem, was ein Gesetz über eine Sache sagt, Abtreibung ist sein Beispiel, erkennen wir nicht den moralischen oder unmoralischen Charakter des Gesetzes. Denn Gesetze können selber unmoralisch sein. Man denke etwa auch an die NS-Judengesetze. Aber woran erkennen wir den moralischen Charakter stattdessen? Das sagt Andrick nicht, er sagt nur, woran wir ihn nicht erkennen.Es ist auch wahr, dass Gesetze unnötig sein können. Heute lese ich in der Zeitung, dass die Bundesregierung ein Gesetz gegen die Rinderanbindung plant; es gibt Stimmen, die sagen, das sei unnötig, denn die Rinderanbindung gehe ohnehin zurück. Mich überzeugt dieses Argument nicht, aber da ich weiß, dass es Dinge gibt, die wirklich unnötig sind, kann ich es nicht einfach abtun, sondern muss ein Gegenargument vorbringen. Ob allerdings nicht nur Gesetze, sondern auch moralische Urteile „unnötig“ sein können, ist eine ganz andere Frage. Wenn eine Handlung des Subjekts A vom Subjekt B ungut genannt wird, kann A nicht antworten, die Frage, ob sie gut war, stelle sich gar nicht, vielmehr habe er „jenseits von Gut und Böse“ gehandelt. Das heißt, er kann schon, aber es wäre selbst wieder nicht gut. Denn Moral zielt auf Universalisierung: Was jemand tut, soll niemandem schaden. Daher kann jede und jeder, der oder die sich beschädigt fühlt, das vorbringen. Ohne Ausnahme. Wenn es vorgebracht wird, sollte sich das kritisierte Subjekt, sei es eine Person oder eine Gruppe, immer verpflichtet fühlen, die Kritik moralisch-sachlich so oder so zu beantworten.Nicht ausweichenAndrick will hier noch zwischen moralischer „Anfrage“ und „Anklage“ unterscheiden. Das führt nicht weiter. Ob die Anfrage anklagend vorgebracht wird oder nicht, wichtig ist, dass der Beantwortung nicht ausgewichen wird. Denn sonst würde der moralische Universalismus verletzt. Und ja, die Anfrage wird natürlich „personalisiert“ sein. Das zu kritisieren, wie Andrick es tut, führt auch nicht weiter, denn Moral ist doch immer die Moral von Personen. Zweifelhaft kann allenfalls sein, ob eine moralische, also personalisierte Anfrage „ernst genommen“ zu werden verdient. Aber wenn wir Andricks Beispiele durchgehen, sehen wir, dass das bei allem, was er anführt, der Fall ist. Der Vater nennt seine Tochter eine Egoistin. Meine Partnerin sagt, „du hörst mir niemals zu“. Ist es denn undenkbar, dass sie beide recht haben? Und wen sollen sie ansprechen, wenn nicht die Person, um die es ihnen geht?Ein Politiker sagt, der Zuckergehalt von Lebensmitteln sei deshalb nicht hinreichend gekennzeichnet, weil eine Industrielobby es verhindere. Könnte es sich nicht wirklich so verhalten? Soll man das nicht ansprechen dürfen? Sondern stattdessen, wie Andrick vorschlägt, „eine für alle annehmbare Kennzeichnungsform finden“? Aber wie er selbst einleitend gesagt hatte, stellt sich die Frage, ob etwas „annehmbar“ ist, unabhängig davon, wie das von dem oder jenem Subjekt „festgelegt“ worden ist. Es ist also denkbar, dass sämtliche Staaten Abtreibung legalisieren und sie dennoch unmoralisch ist, und es ist denkbar, dass die gute Moral auf der Seite von Millionen Menschen und der Mehrheit der Politiker steht, die eine Kennzeichnungsform auf Lebensmitteln unannehmbar (weil gesundheitsschädlich) finden, obwohl die industriellen Hersteller festgelegt haben, dass sie annehmbar sei (weil ihrem Interesse dienend), und man sich mit ihnen nicht hat einigen können.Am meisten tritt Andricks Hilflosigkeit zutage, wenn er sagt, es sei „demagogische Moralinjektion“, wenn „die einzelne Äußerung eines Menschen, der Schall und Rauch des Augenblicks, zu einer ,entlarvenden‘ Charakteroffenbarung einer bestimmten Gruppe umgedeutet (oder ‚hochgejazzt‘) wird“. So etwas mag es geben, aber die Verallgemeinerung zeigt Andricks Begriffsschwäche, denn sie trifft auch darauf zu, dass wir die Suggestion eines „einzelnen Menschen“, Auschwitz sei ein Vogelschiss in der deutschen Geschichte, als Charakteroffenbarung einer ganzen Gruppe, der AfD nämlich, auffassen. Was auch Andrick, da bin ich ganz sicher, nicht „demagogisch“ findet.Heillose VerwirrungTrotz allem glaube ich wie er, dass mit der Moral etwas falsch läuft. Aber das Problem ist nicht, dass jemand jemanden moralisch kritisiert, sondern dass die Gesellschaft in eine heillose Verwirrung darüber geraten ist, was sie für gut im moralischen Sinn halten soll und was nicht. Also nicht, dass moralisch geurteilt wird, sondern wie. Für diese Verwirrung ist Andricks Hilflosigkeit ein Indiz, aber es gibt weit schlimmere. Zum Beispiel, dass in den USA eine Lehrerin entlassen wurde, weil sie im Unterricht den David von Michelangelo in Florenz gezeigt hatte (er ist nackt). Oder dass in Groningen, Niederlande, eine Aufführung von Samuel Becketts Warten auf Godot, vielleicht dem wichtigsten Bühnenwerk im 20. Jahrhundert, verboten wurde (es kommen keine Frauen in ihm vor). Oder dass ein Autor, der schon viele Bücher über seine afrikanischen Reisen geschrieben hat, neuerdings an eine Lektorin gerät, die es nicht duldet, dass er den Ausruf Einheimischer: „That’s Africa!“, zitiert (das Wort Afrika sei rassistisch). Der Westen dreht durch, denke ich, wenn ich den „woken“ Unsinn lese.Soll man noch weitergehen und sagen, der Westen sei nihilistisch geworden? Nietzsches Theorie folgend, wonach Nihilismus der Zustand ist, in dem eine Gesellschaft ihre obersten Werte verloren und (noch) keine neuen gefunden hat?In gewisser Weise dürfte es sich so verhalten, aber man muss genauer sein. Was ist geschehen? Zunächst kämpfte der kapitalistische Westen mit der kommunistischen Systemalternative. Da stritten alte und neue Moral miteinander. Die einen sagten, man sei frei, die anderen: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Ich meine, sie hatten beide unrecht. Aber da glaubten wir alle zu wissen, was moralisch war, je nachdem, für welche Seite wir uns entschieden. Seit es nun diese Alternative nicht mehr gibt, hat sich die Verwirrung „hochgejazzt“, um mit Andrick zu sprechen.Wirklich zu weit würde man allerdings dann gehen, wenn man behaupten wollte, von neuen obersten Werten könne jetzt gar keine Rede mehr sein. Nein, sie sind da, nur sind sie noch ziemlich verhüllt. Immer noch, ja zunehmend, wissen viele Leute, dass die kapitalistische Produktionsweise unter Moralgesichtspunkten problematisch ist, und wahrlich nicht bloß, weil Lebensmittel in ihr unzureichend gekennzeichnet werden. Vielmehr weil sie mit ihrem Wachstums-Imperativ den Planeten zerstört. Um Karl Marx zu zitieren: „Das Kapital als solches setzt nur einen bestimmten Mehrwert, weil es den unendlichen nicht at once setzen kann; aber es ist die beständige Bewegung, mehr davon zu schaffen.“ In dieser Bewegung muss es alle Grenzen überschreiten, auch die ökologischen. Der Zusammenhang wird nicht wirklich begriffen, aber die Einsicht verbreitet sich, dass es heute nichts Wichtigeres gibt, als gegen die Zerstörung zu kämpfen. Das Bundesverfassungsgericht hat geurteilt, sie schränke die Freiheit kommender Generationen ein. Das ist ein eminent moralischer Satz.Die Grünen, zum BeispielAber die politische Kraft, von der sich die moralisch denkenden Leute vertreten lassen, die Grünen, wagen es nicht, den Sachverhalt an- und auszusprechen. Sie müssten sowohl die kapitalistischen Unternehmen kritisieren als auch uns alle, die wir deren immer neue, immer mehr Waren willig konsumieren. Sie sind aber überwiegend zu feige dazu. Es gibt insofern nicht zu viel „Moralisierung“, sondern bei Weitem zu wenig. Den Grünen nützt es übrigens nicht einmal, denn obwohl sie moralisch nahezu stumm sind, werden sie von wütenden Moralverweigerern behandelt, als stellten sie ein Moraldiktat auf. Das tun sie nicht, aber aus der sozialen Schicht, die sie hervorgebracht hat, tönt ersatzweise dieser „woke“ Unsinn, von dem ich sprach. Er ist es, den Andrick hätte anprangern sollen.Auch fehlt es den Grünen an Intelligenz, denn sie sind nicht fähig, ihren Technikfetischismus zu überwinden. Auch das ist nämlich eine Moralfrage. Die Grünen meinen ja, alles könne so weiterlaufen wie bisher, wenn nur genügend technische Wunderwaffen erfunden werden, wie der grüne Wasserstoff. Und das geht noch weiter, denn sie gehören zu denen, die überhaupt glauben, die Technik entwickle „sich“ von selbst, sodass nun nach dem Smartphone, infolge des Beschlusses irgendwelcher Götter, der „intelligente Kühlschrank“ kommen muss und so weiter. Hat man schon mal gehört, dass Grüne sich über den hemmungslos steigenden Energieverbrauch des durchs Smartphone noch verdoppelten Internets Gedanken machen – künftig dann noch ergänzt durch Maschinen wie ChatGPT? Durch seinen Stromverbrauch, las ich, verursacht das Internet „weltweit inzwischen ebenso viel Kohlendioxid-Ausstoß wie der Flugverkehr“. Sollte es da nicht Überlegungen zur Begrenzung geben? Davon lese ich nichts.Der Grundfehler ist, dass wir der Behauptung Glauben schenken, es könne moralfreie Felder geben und die Technik sei ein solches. Es gibt sie nicht. Über alles muss debattiert werden können, unter der Frage, ob der einen Nutzen der anderen Schaden ist. Aber heute gibt es Stimmen, die sogar die Politik von der moralischen Anfrage ausnehmen wollen. So schreibt die FAZ in einem Leitartikel: „In Amerika halten inzwischen etwa zwei Drittel der Demokraten und Republikaner die Anhänger der jeweils anderen Partei für ‚unmoralisch‘. Davon hat niemand etwas, denn damit ist kein Staat mehr zu machen.“Nein? Die Moral von Donald Trump soll kein Thema sein? Oder die Moral der Abtreibung? In diesem Punkt wenigstens wird Andrick mir zustimmen, er betont ja selbst den moralischen Gehalt der Abtreibungsfrage. Am bürgerkriegsschwangeren Zustand der USA sind nicht die Frauen schuld, die dort offen für ihre Moralauffassung, ihr Recht auf Abtreibung streiten.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.