Monster, Maler und Musen

Kunst Künstler sprengen Grenzen bürgerlicher Moral, heißt es. Ihre Grenzüberschreitungen dürfen und müssen monströs sein, meint Hanno Rauterberg in der ZEIT. Eine Erwiderung

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Sadistisch agieren kann nur, wer die Erlaubnis oder wenigstens Duldung hierfür erhält
Sadistisch agieren kann nur, wer die Erlaubnis oder wenigstens Duldung hierfür erhält

Foto: Franck Fife/Getty Images/AFP

Eines der großen Narrative der Kunst besteht in ihrer vermeintlichen Fähigkeit zur Überschreitung und Sprengung der Grenzen der Moral. Wie bei jedem guten Narrativ handelt es sich auch hierbei um eine verkaufsfördernde Fantasie, die umso wirkmächtiger ist, je häufiger sie wiederholt wird. Nichts anderes versucht ein Text des Kunstkritikers Hanno Rauterberg in der Zeit, der unter dem Titel Geniale Monster das Verhältnis von Genie und Wahnsinn auszuloten sucht. Rauterbergs These ist einfach: Künstler waren schon immer Monster, sie werden es immer sein. So etwas wie ein moralischer Künstler ist ein Oxymoron in sich, weil der Künstler stets außerhalb der Moral zu stehen habe. Immerhin, im Gegensatz zu der kulturellen Öffentlichkeit der letzten Jahrhunderte falle es uns heute leichter, diese moralischen Verfehlungen zu ächten, meint Rauterberg:

Ob nun Weinstein oder Wedel, das Treiben der Genies im Bademantel will niemand mehr entschuldigen. Schluss ist mit der Romantisierung des kreativen Verbrechens.

Mit Verlaub, falscher könnte Herr Rauterberg nicht liegen! Die Behauptung ist im Grunde gar infam, denn sein Text tut nichts anderes, als das „kreative Verbrechen“ – seriously? – zu romantisieren. Weinstein und Wedel als Genies zu bezeichnen, stellt nicht nur eine erhebliche Überdehnung des Begriffs dar. Wir erleben auch nach wie vor viele Versuche der Relativierung. Die immer wieder geäußerte Bemerkung, die Frauen hätten sich doch entziehen können, zeigt deutlich, wie das Verhältnis von Täter und Opfer bewertet wird. (Ganz am Rande: Wer sagt, dass die Frau nur zu gehen habe, wenn ihr die Übergriffigkeit des Mannes nicht passt, der sagt auch, dass der Einsatz sexueller Gewalt das beste Mittel zur Schaffung frauenfreier Räume ist.)

Und überhaupt, was ist das „kreative Verbrechen“? Meint Rauterberg hier tatsächlich das Verbrechen als extremste Form der Transgression von Moral und Gesetz? Oder meint er doch den Verbrecher, der zufällig auch ein Kreativer ist? Rauterbergs Text insinuiert über weite Strecken, dass jeder große Künstler irgendwie wahnsinnig und gewalttätig gewesen sei. Dafür führt er Listen an. War Lewis Carroll nicht eigentlich ein verkappter Pädophiler? Und überhaupt: Bernini ließ seiner Geliebten Costanza Bonarelli das Gesicht zerschneiden. Für jedes der aufgelisteten Genies mit Hang zu Paraphilie und Sadismus ließen sich Dutzende andere Zeitgenossen mit unauffälligen Lebensläufen anführen. So stehen Peter Bruegel, Leonardo da Vinci oder Jan Vermeer Bernini in Sachen Genialität wohl in nichts nach.

Nein, die Behauptung, dass Genie und Wahnsinn untrennbar miteinander verbunden seien, ist eine mythische Konstruktion, die ihren Anfang mit den legendären Künstlerviten des Architekten und Biografen Giorgio Vasaris nimmt. Sie liefern die Blaupause für den Diskurs und die Betrachtung des Künstlers als Halbwahnsinnigen. Sie sind ein Produkt einer historischen Periode, ebenso wie die Künstler und Kunstwerke, die sie beschreiben. Natürlich verkaufte sich der Skandal auch vor 400 Jahren besser, als der stillschaffende Künstler, der heimlich an sich und der Welt litt.

Ergänzt wurden die Blueprint-Biografien durch den Künstlerdiskurs der bürgerlichen Gesellschaft, deren Geniekult im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert kulminierte. Das schöpferische Genie wurde dabei stets und immer als Mann gedacht – auch das vergessen wir bei der Betrachtung des genialen Künstler-Täters gerne. Das Auge, das wir im Angesicht des „kreativen Verbrechens“ zudrücken, verschließt sich eben nur vor den Taten der Männer. Man denke nur an den Fall der Fotografin Irina Ionesco, die ihre Tochter Eva jahrelang in eindeutigen sexuellen Posen ablichtete. Eva Ionescu war mit gerade einmal 12 Jahren im Playboy zu sehen. Dass diese Bilder heute (wenn schon nicht damals!) nicht mehr in Ausstellungen zu sehen sind, würde niemand als Beweis für „Prüderie“ betrachten. Ernst Ludwig Kirchners Fränzi aber war gerade einmal acht, als er sie als Modell entdeckte. Das muss, bei aller Liebe zu Kirchners Werk, die auch ich teile, problematisiert werden. Fränzi und andere Kindermodells – und es gilt auch für die Mädchen bei Balthus – haben, im Gegensatz zur Filmemacherin Eva Ionescu keine Stimme. Es ist die Aufgabe der KunsthistorikerInnen und KuratorInnen, ihnen eine Stimme zu leihen.

Transgressionsphantasmen

Aber kehren wir noch einmal zur Gewaltfrage zurück: In den Werken Cindy Shermans oder Marina Abramovics spielen Gewalt und Sex eine große Rolle; Abramovićs eindrücklichste Performances stellen ihre eigene Verwundbarkeit dar. Wenn künstlerische Transgression (fast) immer und zwangsläufig mit Gewaltakten verbunden ist, so steht es dem Künstler frei zu wählen, wen er zur Zielscheibe dieser Gewalt macht. Wer dagegen „zwanghaft“ und unkontrollierbar handelt, und dabei andere zum Ziel sadistischer Gewalt macht, ist wohl doch näher am Wahnsinn als am Genie. Da aber für Frauen der Geniebegriff so gut wie nie ins Spiel gebracht und beim Sprechen vom Künstler ohnehin stets von Männern ausgegangen wird, macht man sich nicht einmal die Mühe, den Zusammenhang von Genialität und Gewalt auch für die Frauen zu untersuchen. Weil das Bild hier vermutlich ein ganz anderes wäre. Übrigens: Dass sich die Gewalt der Künstlerinnen eher als Masochismus, die Gewalt der Künstler eher als Sadismus entlädt, ist nicht einfach mit psychischen Dispositionen zu erklären, sondern ist natürlich auch mit kulturellen Mustern verbunden.

Man darf davon ausgehen, dass eine Regisseurin oder Malerin, die ähnlich vorginge, nie und nimmer den strukturellen Schutz des Systems erhielte, den Dieter Wedel oder Woody Allen genießen. Sadistisch agieren kann nur, wer die Erlaubnis oder wenigstens Duldung hierfür erhält. So manche geniale, sadistische Künstlerin hockt wohl eher in der Psychiatrie, als in den Babelsberger Filmstudios.

Neben diesen realen Machtverhältnissen spielt für den transgressiven Gewalttäterkünstler ein weiteres Feuilleton-Phantasma eine zentrale Rolle: Denn stets ist die Rede vom rebellierenden Künstler, der die Moral der bürgerlichen Gesellschaft angreift und zuletzt sprengt. Es ist das vielleicht erfolgreichste Phantasma der Kunstwelt. Tatsächlich haben die „großen“ Künstler nie gegen die Regeln der bürgerlichen Gesellschaft verstoßen, wie auch? Sie befanden sich stets im Zentrum ebendieser Gesellschaft. Im Wien des Fin de Siècle waren Kinderbordelle gang und gäbe; ein Künstler, der Kinder in eindeutigen Posen malte, sprengte nicht bürgerliche Konvention oder Moral, er agierte in den von ihr gesetzten Rahmungen. Die bürgerliche Moral war natürlich immer auch eine Doppelmoral, und viele Künstler dekonstruierten oder desavouierten sie nicht, sondern nutzten sie letztlich für ihre Zwecke. Das vergisst man ganz leicht, wenn man die Mär von der Transgression verbreitet. Die Dialektik von Transgression und darauffolgender Empörung ist letztlich ein Spiel, das nicht über die bürgerliche Gesellschaft hinausweist, sondern erst in ihr eine sinnvolle Rahmung erhält.

Zuletzt scheint auch in Rauterbergs Text etwas von diesem „Klassenbewusstsein“ auf: „Es dräut ein neuer Moralismus, eine Zensur von unten [...].“ Ja, wer oder was ist denn dieses „unten“? Ist es der kleinbürgerliche Spießer, der dem Bildungsbürger seine heißgeliebten Phantasiegirls aus den Museen entwenden will? Oder der feministische Mob aus den Gender-Seminaren, der plötzlich Ahnung haben will von dem, was gute Kunst ist? Ich verstehe schon, Herr Rauterberg, es geht Ihnen wohl um Distinktion. Wendet sich der Geschmack der Massen zuletzt gegen das inventarisierte, kanonisierte, seit Generationen von vor allem männlichen Kritikern für gut befundene, dann droht der bürgerlichen Welt mehr, als die Abhängung des ein oder anderen Kitschschinkens: Am Ende könnte die so beständige, bürgerliche, brüderliche Ordnung tatsächlich noch gesprengt werden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marlen Hobrack

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Marlen Hobrack

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