Steuerfahnderin Birgit Orths: „Deutschland ist immer noch ein Paradies für Steuerbetrüger“
Steuerparadies Die Steuerfahnderin Birgit E. Orths ist sicher: Bessere Arbeitsbedingungen für die Steuerfahndung würden sich auch für den Staat sofort rechnen. Schließlich ist der Schaden durch Steuerbetrug für Deutschland jährlich immens
Birgit E. Orths ist Steuerfahnderin, sie sagt: „Der Schaden durch Steuerbetrug beträgt 100 Milliarden. Pro Jahr!“
Foto: Max Sloboda für der Freitag
Ob Clankriminalität, Razzia gegen die Deutsche Bank, Panama Papers oder Cum-Ex: Die Steuerfahnderin Birgit E. Orths ermittelt von Düsseldorf aus seit 20 Jahren gegen alle Formen der Steuerkriminalität. Nun hat sie ein Buch über ihre Arbeit vorgelegt.
der Freitag: Frau Orths, in Ihrem Buch erzählen Sie, wie ein Brandanschlag auf Ihr Auto verübt wird. Wie gefährlich ist es, Steuerverbrecher zu jagen?
Birgit E. Orths: Das kommt darauf an. Die Steuerfahndung beschäftigt sich ja mit zwei verschiedenen Bereichen: einmal mit Einzeltätern, die mal vergessen, ein paar Einnahmen zu erklären. Dann gibt es den Bereich der Organisierten Kriminalität (OK). Da kann es um „Weiße-Kragen-Verbrechen“ gehen, wie Cum-Ex, oder um Clankriminal
um „Weiße-Kragen-Verbrechen“ gehen, wie Cum-Ex, oder um Clankriminalität und Umsatzsteuerbetrug. Die Gewaltbereitschaft ist im letzteren Bereich erheblich größer. Mit der Polizei rechnen die Täter schon fast, denken sich: „Dann spendieren wir mal ein Bauernopfer“. Das ist jemand, der für ein paar Jahre in den Knast geht. Wenn die Steuerfahndung aber den Hinterleuten das Geld wegnimmt, dann werden die sauer. Seit dem versuchten Brandanschlag auf mein Auto hat sich aber vieles getan. Damals waren wir noch ziemliche Einzelkämpfer. Durch die Gründung neuer Ermittlungsgruppen wissen die Täter jetzt: Wenn sie mir was antun, kommt der nächste Kollege.Ein Teil der Gefahr scheint auch zu sein, dass Sie als Steuerfahnderin so mies ausgerüstet sind: Sie mussten sich Ihre eigene Sturmhaube kaufen.Wir sind als Steuerfahndung an die Finanzverwaltung angegliedert. Da arbeiten in Nordrhein-Westfalen 34.000 Finanzbeamte. Davon sind aber nur knapp zwei Prozent Steuerfahnder. Die große Mehrheit bearbeitet Steuererklärungen, macht Betriebsprüfungen und Ähnliches. Da braucht man keine Sturmhaube. Nur wir paar Männeken klären große Verbrechen auf und haben als Steuerfahnder die gleichen Rechte und Pflichten wie die Polizei. Seit 2015 haben wir in NRW auch Kooperationseinheiten mit der Polizei. Aber selbst da haben wir sechs Jahre gebraucht, um schusssichere Westen zu bekommen, bis die Verantwortlichen gesehen haben: „Huch, die machen ja wirklich polizeiliche Arbeit.“Nicht nur Ihr Leben ist gefährdet, sondern auch der Ermittlungserfolg. Liest man Ihr Buch, weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll. Sie wollen Beweismittel sichern, haben aber keine externe Festplatte. Einige Kollegen wissen 2010 nicht, was eine IP-Adresse ist. Ein Verdächtiger sagt: „Sie fahren mit einem Tretroller hinter einem Ferrari her.“ Sind die Täter Ihnen überlegen?Ja, definitiv. Wir sind nach wie vor ziemlich zurück. Das liegt nicht daran, dass die Kollegen nicht wollen. Gerade die Kollegen, die im Bereich OK arbeiten, wollen. Aber alle stoßen auf die gleichen Grenzen. Bei uns in der Task Force haben wir inzwischen eine Abteilung für Cyber Crime. Da ist es gelungen, IT-Experten einzustellen, statt dass wir PC-affine Kollegen dazu verdonnern. Trotzdem können wir die an einer Hand abzählen.Was glauben Sie, wie hoch ist die Aufklärungsquote?Schwierig zu sagen, weil man nicht weiß, welchen Teil des Eisbergs wir sehen. Obwohl wir schon jetzt mehr sehen, als wir bearbeiten können. Wir könnten so viele Leute mehr beschäftigen, die hätten alle keine Langeweile die nächsten Jahre. Das sind Fälle, die müssen wir jetzt wegen Personalmangels nach hinten stellen.Heißt das, die Chancen, davonzukommen, stehen gut, wenn jemand in Deutschland ein Steuerverbrechen begeht?Ich würde keinem raten, das auszuprobieren. Und wir können sicher auch mit Überraschungsmomenten dienen. Aber es ist tatsächlich so, dass gerade das deutsche System fehleranfällig ist, eben weil die Steuerfahndung an die Finanzverwaltung gekoppelt ist und nicht an Polizei und Zoll – oder eben eine eigenständige Behörde, wie es in anderen EU-Ländern üblich ist. Deswegen ist Deutschland immer noch ein Paradies für Steuerbetrüger.Wenn die Mängel so eklatant sind, drängt sich die Frage auf: Ist das politisch gewollt?Die Tatsache, dass wir so schlecht ausgestattet sind, ist keine politische Absicht. Und auch die Strukturprobleme sind eher historisch gewachsen, denke ich. Dass die Steuerfahndung in Deutschland an die Finanzverwaltung angegliedert ist, mag vor 40 Jahren gepasst haben. Seit zwei Jahrzehnten haben wir es zunehmend mit OK-Strukturen zu tun, an die kommen wir ohne die Zusammenarbeit mit der Polizei nicht ran. Diesen Umbruch hat die Finanzbehörde nicht mitbekommen.Im Buch beschreiben Sie, wie Sie völlig überarbeitet sind. Ihr Dienststellenleiter sagt zu Ihnen: „Man muss ja nicht alles so genau prüfen. Gucken Sie doch einfach mal ein bisschen weg.“ Ist Ihnen so etwas öfter passiert?In dem Maße ist es mir zweimal passiert. Wobei ich nicht genau weiß, ob diese Personen Kontakte in Politik oder Wirtschaft hatten oder ob ich einfach nur die Statistik gefährdet habe. Wenn man wirklich Sachen aufklären will, dauert das. Wir im OK-Bereich haben nur alle paar Jahre Erfolg, dann aber exorbitant – nur ist der Vorgesetzte dann vielleicht nicht mehr da und kann die Lorbeeren nicht mehr ernten.Ein anderes Mal kommt eine Anzeige gegen den Vorstandsvorsitzenden eines großen DAX-Konzerns rein. Darauf folgt Post von der Staatsanwaltschaft: Sie sollen keine weiteren Ermittlungen durchführen.Die Begründung, die man uns gegeben hat, war so durchschaubar dämlich. Das war definitiv eine politische oder wirtschaftliche Entscheidung, anders kann ich mir das nicht erklären.War das ein Einzelfall?Ich kann nicht über alles schreiben und sprechen. So was kommt vor.Sie berichten von Ermittlungen gegen Umsatzsteuerkartelle. Da lassen sich Handyfirmen, die niemals Umsatzsteuer bezahlt haben, Umsatzsteuer zurückerstatten. Passiert das weiterhin?Ja, es ändert sich nur die Ware, mit der das gemacht wird.Warum?Weil unsere Gesetzgebung das Mehrwertsteuersystem nicht grundlegend ändert. Stattdessen wird für einzelne Waren gesagt: Wer die Umsatzsteuer vom Finanzamt zurückwill, muss nachweisen, dass er sie auch bezahlt hat. Jedes Mal, wenn der Schaden durch Steuerbetrug sehr groß war und alle Bescheid wussten, wurde die Liste erweitert. Dann standen Emissionszertifikate und später Handys im Paragrafen. Aber unten stand: Das gilt nicht für Spielekonsolen. Was macht der clevere Täter? Er schreibt ab jetzt Rechnungen über Spielekonsolen. Man kann das mit jeder Ware machen. Und so läuft es weiter.Großbritannien warnte Deutschland, dass Betrüger genau das machen würden. Dort gilt das „Reverse Charge“-Verfahren: Eine Erstattung ist erst dann möglich, wenn die Steuerzahlung erfolgt ist. Ist die Lösung so einfach?Das ist, was ich am wenigsten verstehe. Die Briten haben es vorgemacht. Umsatzsteuer ist ein europäisches System. Großbritannien hat gesagt: Wir warten nicht auf die Zustimmung der EU, denn der Schaden in unserem Land durch Umsatzsteuerbetrug ist höher als eine EU-Strafe. Gut gemacht! Seitdem sind die Täter bei uns und in anderen europäischen Ländern. Bei den Lösungsvorschlägen, die aus dem Bundesfinanzministerium kommen, ist einer abstruser als der andere. Warum machen wir das britische System nicht nach?Lautet die Antwort Lobbyismus?Was anderes kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.Nicht wenige Menschen haben den Eindruck, dass die kleinen Fische zahlen müssen, während die großen Fische Wege im System finden.Es ist leichter aufzuklären, wenn jemand seine Einnahmen nicht komplett offengelegt hat, als einen Cum-Ex-Fall. Das liegt auch am Personalmangel. Wir Steuerfahnder sind ein Bruchteil der Steuerbeamten.Was brauchen Sie, um die Großen zu schnappen?Wir müssen eine eigenständige Behörde sein. Und wir brauchen eine andere Ausbildung, zur steuerlichen muss die polizeiliche hinzukommen. Außerdem müssen wir Anreize schaffen, damit mehr gute Leute diesen Job machen. Wer Cum-Ex oder Clankriminalität verfolgt und sich jedes Wochenende um die Ohren schlägt, sollte nicht das gleiche Geld verdienen wie jemand, der Steuererklärungen prüft und nach neun Stunden nach Hause geht. Obwohl diese Tätigkeit auch sehr wichtig ist.Kann sich der Staat all das leisten?Ja, hier liegt doch das Geld! Wir in der Ermittlungsgruppe OK und Steuerhinterziehung holen pro Jahr circa 6,6 Millionen rein – pro Fahnder. Da müsste doch irgendjemand mal auf die Idee kommen, Anreize zu schaffen, damit mehr Leute zu uns kommen. Das ist, was jedem Politiker bewusst sein sollte: Der Schaden durch Steuerbetrug beträgt pro Jahr in Deutschland circa 100 Milliarden Euro. Was wir für ein Geld zur Verfügung hätten, wenn wir mehr Personal hätten – für gute Schulen, Krankenhäuser, Renten …Die Landesregierung in NRW will Steuerbetrug effizienter bekämpfen und dazu eine eigenständige Behörde gründen, Finanzminister Christian Lindner (FDP) plant sogar, ein eigenes Bundesfinanzkriminalamt zu schaffen.Noch ist nichts passiert. Aber was der Minister bisher für NRW veröffentlicht hat, lässt hoffen. Lindners Bundesfinanzkriminalamt halte ich ebenfalls für eine gute Idee. Das Problem ist nur: Steuern sind Ländersache. Wenn die große Idee also funktionieren soll, muss erst mal der Unterbau in allen Bundesländern funktionieren. Und der Umbau funktioniert nur, wenn die Leute, die in den Leitungsebenen sitzen, das auch wollen. Die müssen Lobbyismus standhalten und nicht nur ihre letzten Jahre auf ihrer A16-Stelle absitzen wollen.Placeholder infobox-1