Kant würde kotzen: Warum Social Media aktuell nichts mit Aufklärung zu tun hat
Big Tech In sozialen Netzwerken legen obskure Blogger viel Wert darauf, „selbst zu denken“. Unser Autor ist sicher: Mit Aufklärung im Sinne von Immanuel Kant hat das nichts zu tun. Was muss sich ändern auf den Plattformen?
Gerade lese ich auf X: „Gibt es noch irgendjemanden, der ,Correctiv‘ ernst nimmt nach ihrer erfundenen Wannsee-Story?“ Einer pflichtet bei: „Den neosozialistischen Taugenichtsen bleibt nichts anderes, als weiter an diesen Schwachsinn zu glauben“, ein anderer weiß: „Die sind einfach ein weiteres Organ der Staatspropaganda, eigentlich noch schlimmer: eine Art Gesinnungspolizei!“
Immanuel Kant wusste, dass Aufklärung der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit ist. Würde man die Urheber der obigen Äußerungen befragen, würden sie sich ganz sicher als aufgeklärte Kantianer beschreiben. Sie halten sich für eine Gruppe von Eingeweihten, die tatsächlich ihren eigenen superschlauen V
schlauen Verstand angestrengt haben und etwa zu der Erkenntnis gelangt sind, dass die redaktionellen Medien vom Staat kontrolliert werden und die echte wahre Wahrheit jetzt nur noch auf den „freien“, „unzensierten“ Plattformen zirkuliert.Auch die AfD selbst wird sich mit Kant voll auf Linie sehen, denn sie kämpft seit Jahren engagiert für die „Meinungsfreiheit“ in den sozialen Medien. Tobias Matthias Peterka belehrte dazu am 14. Dezember 2023 den Deutschen Bundestag: „Heute kann man eben nicht mehr den Büttel vor die Druckerei stellen oder den Gesinnungsgenossen in der öffentlichen Rundfunkanstalt platzieren, wie Sie das so gerne machen.“ Die EU agiere durch den neuen Digital Services Act, der Hass, Hetze und Häme im Netz einschränken soll, so ähnlich wie „auch die chinesische KP gegen den Internetmilliardär Jack Ma“.Seit dem Vormarsch der AfD und den Correctiv-Enthüllungen weiß wirklich jeder, dass die AfD die klassischen Parteien in den sozialen Netzwerken regelrecht deklassiert. Ganz clevere Leute empfehlen den etablierten Parteien seither, die müssten doch jetzt auch mal richtig Vollgas geben in den sozialen Netzwerken und die Demokratiefeinde mit innovativem Content gehörig in die Schranken weisen. Man mag sich etwas die Augen reiben, denn der Appell ähnelt demjenigen, den sich die redaktionellen Medien schon seit vielen Jahren anhören müssen: Könnt ihr nicht mal auch cooles digitales Zeug auf die Plattformen stellen?Der Algorithmus, ein BoosterSolche Stimmen übersehen, dass Radikale, Extremisten und Demokratiefeinde aus propagandistischem Kalkül den vollen Fokus auf die Netzwerke legen. Für diese Strategie gibt es einen einfachen Grund: Die Plattformen „boosten“ emotionale und aufrührerische Inhalte algorithmisch. Inhalte mit Hass, Hetze und Häme werden dort verstärkt ausgespielt. Die Digitalkonzerne unterstützen so die Radikalisierung von Positionen sowie die Polarisierung in unserer Gesellschaft, sie arbeiten also aktiv mit an der Destabilisierung unserer Demokratie. Trump selbst hat gesagt, ohne Twitter wäre er nicht Präsident geworden.Besonders zynisch ist, dass die Digitalkonzerne nach wie vor mit strafbaren und demokratiefeindlichen Inhalten Geld verdienen. Die Aufmerksamkeitsökonomie der Plattformen stellt also jede differenzierte und balancierte Position vor das Problem, gar nicht wahrgenommen zu werden. Das gilt für kluge redaktionelle Beiträge ebenso wie für umsichtig formulierte politische Positionen. In den Netzwerken gilt: Je härter, greller, krasser, emotionaler und skandalisierender, desto besser.Was sollen die etablierten Parteien also tun? Sollen sie jetzt auch mehr Hass, Hetze und Häme verbreiten, um die AfD in die Schranken zu weisen? Sollen sie zurücklügen und faken? Und wie kann uns Kant bei der Beantwortung dieser Frage helfen?Was der Philosoph im 18. Jahrhundert noch nicht erkennen konnte, war die Abhängigkeit der menschlichen Erkenntnis von den Medienstrukturen, die die Informationen verbreiten. Seit Marshall McLuhan und dem Media Turn konnten wir erkennen, dass Medien nie unschuldig sind: „The medium is the message.“ Oder, präziser formuliert: Das Medium formatiert, prägt, moduliert die Inhalte. Die Erkenntnis gilt faszinierenderweise auch für Kant selbst. Der wusste beispielsweise noch nicht, dass sein eigenes Denken ebenso wie das der Aufklärung ohne die Erfindung der Druckerpresse niemals möglich gewesen wäre. Das zu verstehen, dazu brauchten wir McLuhan.Mit dem Untergang der Gutenberg-Galaxis haben sich die medialen Strukturen in den letzten Jahren jedoch radikal geändert – mit einer fatalen Fehlentwicklung in ihrem innersten Kern. Denn Gutenbergs bewegliche Lettern als Grundlage von freiem Diskurs und Öffentlichkeit gehörten niemandem, sie wurden quasi zu einem Gemeingut der aufgeklärten Demokratien.Die Plattformen, die unsere zukünftige politische Öffentlichkeit formen, gehören jedoch nicht uns als aufgeklärter Gesellschaft, sondern den Digitalkonzernen. Big Tech entwickelt und kontrolliert diese Medientechnologien. Und genau damit entgleitet uns unsere eigene demokratische Souveränität. Wir selbst haben als Gesellschaft keinen Zugriff mehr auf die Grundlagen unserer eigenen Demokratie.Nur wenn wir Kant mit McLuhan über ihn selbst hinausdenken, können wir die schlimme Symbiose verstehen, die zwischen den Plattformen von Big Tech und den radikalen Positionen herrscht.Denn die Inszenierung totaler Aufklärung soll nur die Zerstörung der Aufklärung selbst überdecken. Die Absolutisten der Meinungsfreiheit gehen so weit, die vermeintliche „Tyrannei der Demokratie“ abschaffen zu wollen. Wenn Digitalkonzerne unsere Medienstrukturen entwickeln, entwickeln sie eben auch das Fundament unserer Denkstrukturen und kontrollieren diese – in Zukunft noch verstärkt durch KI. Denn der Mensch denkt nicht autonom – die Strukturen seines Denkens werden bestimmt durch die Medien, die er verwendet. Genau deshalb ist der Begriff der Freiheit der zentrale Dreh- und Angelpunkt für Big Tech wie für die Rechtsradikalen gleichermaßen. Sie zerstören die Freiheit im Namen der Freiheit – denn sie wollen selbst über uns herrschen, auch wenn die Motivationen sicherlich jeweils spezifische sind. Aber genau dagegen müssen wir uns wehren. Wir müssten nur unsere digitale Souveränität zurückerlangen und eine „inklusive Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas) als Grundlage unserer Demokratie wiederherstellen. Das wäre durchaus möglich.Wir müssten die aktuelle Fehlregulierung abschaffen, die in erster Linie die Netzwerkeffekte belohnt und so den Wert der Plattformen ins Unendliche steigert, wogegen der Wert der Inhalte zusammenbricht. Steve Bannons „Flood the zone with shit“ ist die natürliche Konsequenz auf diese falsche Weichenstellung.Stellen wir uns vor, wir würden den Wert der Netzwerke drastisch reduzieren. Wir würden die Plattformen auf offene Standards verpflichten, Nutzer könnten Inhalte wie Follower über Plattformgrenzen hinweg teilen. Stellen wir uns vor, Content-Creatoren dürften nach Belieben Outlinks setzen, also Links nach draußen auf die eigenen Präsenzen mit reichhaltigen, differenzierten Inhalten. Stellen wir uns vor, wir würden die Praxis abschaffen, wonach Plattformen entweder Outlinks abschaffen oder Inhalte mit Outlinks aktiv herunterregeln. Stellen wir uns vor, wir würden Plattformen die Monetarisierung strafbarer Inhalte verbieten. Wer wirtschaftliche Verantwortung übernehmen kann, der soll auch inhaltliche Verantwortung übernehmen.In kürzester Zeit würde sich das Blatt wenden, und nicht nur die Plattformen würden mit dem Internet Geld verdienen. Creatoren und redaktionelle Inhalte wären schnell von ihrer Abhängigkeit von den Netzwerken befreit. Weil die Plattformen durchlässig sind, würden wir der Qualität von Inhalten eine Chance geben. Balancierte, qualifizierte Stimmen hätten auch unter digitalen Bedingungen eine Chance. Wir hätten die digitalen Regeln umgekehrt: Austauschbare Plattformen müssten einander verzweifelt überbieten, um die besten Inhalte zu ergattern. Die Creatoren wären endlich souverän und nicht mehr auf Gedeih und Verderb auf die Plattformen angewiesen. Solange wir aber nicht entschlossen gegensteuern, bleibt nichts und niemand von den Imperativen der Plattformen verschont. Übrigens auch nicht dieser Text, dessen Headline reißerisch „Kant“ auf „kotzen“ alliterieren lässt und so den ganzen Inhalt schön snackable in der Headline kernfusioniert: BANG!!! Klar, auch dieser Beitrag will online wahrgenommen werden, im Meer des digitalen Contents. Also Algorithmen, bitte nehmt mich schön mit euch mit, solange wir die digitale Bastille noch nicht gestürmt haben. Bis dahin bleibe ich eure Geisel – wie wir alle. Denn aktuell beherrschen uns noch die Algorithmen, sodass sich auch die Kritik an ihnen nur noch mit ihnen umsetzen lässt. Eine Paradoxie, die umso stärker zeigt, wie stark die Freiheit der Aufklärung gerade gefährdet ist. Ich mir sicher, hundertprozentig: Kant würde kotzen, wenn er heute auf Social Media unterwegs wäre.Placeholder authorbio-1
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