Natalia Romiks Fragment der Höhle Verteba in der heutigen Ukraine
Foto: Andrzej Golc/Zentrum für zeitgenössische Kunst Trafo, Szczecin
Es ist eine silbrig glänzende, stelenähnliche Skulptur. Knapp anderthalb Meter groß, steht sie leicht schräg auf einem Sockel. Von hinten gestützt durch Metallträger, zeigt sie von vorne eine grobe Struktur, wie man sie von alten Backsteinmauern kennt. Auf der Rückseite ist kein Glanz mehr zu erkennen, hier offenbart sich, in dunkler Farbe, auch die Beschaffenheit des Artefakts: die Skulptur ist flach, die Backsteinstruktur nur ein versilberter Abguss einer Mauer. Stände sie für sich, würde man sie mit ähnlich scheinenden Skulpturen vergleichen, Arbeiten von Thomas Schütte oder Anselm Reyle.
Hier aber ist der Kontext ein gänzlich anderer: Die polnische Künstlerin und Politikwissenschaftlerin Natalia Romik, Urheberin der A
erin der Arbeit, hat der Skulptur eine lange Holzvitrine zur Seite gestellt. Darin erfährt man in Text, Bild und Video vom Schicksal des polnischen Juden Abraham Carmi, der sich als junger Mann während der deutschen Besatzung Warschaus in einem nicht belegten Grab des dortigen Jüdischen Friedhofs an der Okopowa-Straße versteckte, so wie, über Monate hinweg, viele andere Warschauer Jüdinnen und Juden. 1942 wurde das Versteck entdeckt und einige derer, die sich dorthin geflüchtet hatten, von den Deutschen vor Ort erschossen. Nur zwei Personen, die sich über die Zeit im Grab versteckt hielten, überlebten die Shoah, darunter Carmi, der mittlerweile in Israel lebt und im Video Bericht gibt.Die Vitrinen sind kein BeiwerkRomik, 1983 in Warschau geboren, hat nicht nur diese Geschichte recherchiert, sondern mit einem interdisziplinären Team das historische Versteck unter anderem mit archäologischen und forensischen Mitteln untersucht. Die Vitrine enthält Dokumente ihrer Recherche, die Skulptur ist ein von Romik versilberter Latexabdruck eines Teils der unterirdischen Grabmauer.Bis Ende Februar war Romiks Installation im NS-Dokumentationszentrum in München zu sehen. Unter dem Titel Materializing. Zeitgenössische Kunst und die Shoah in Polen waren dort auch Werke von Künstlerinnen und Künstlern wie Zuzanna Hertzberg oder Wilhelm Sasnal in die Dauerausstellung eingestreut. Die zumeist Münchner Bildmotive der Dauerausstellung wurden dabei durch die Arbeiten mit historisch korrespondierenden Bildern aus Polen in einen ergänzenden Kontrast gesetzt.Für die nächsten Monate ist Romiks in München gezeigte Arbeit nun an einem anderen Ort zu sehen, diesmal gemeinsam mit acht anderen Arbeiten der Künstlerin aus der gleichen Serie: Architekturen des Überlebens. Geschichte – Kunst – Forensik im Jüdischen Museum Frankfurt präsentiert Romiks Gesamtzyklus zum ersten Mal in Deutschland. Ihre Dokumentation jüdischer Verstecke in Polen und der heutigen Westukraine, 2022 bereits in der Warschauer Nationalgalerie Zachęta und im TRAFO Center for Contemporary Art in Szczecin gezeigt, stellt einen beeindruckend schlüssigen künstlerisch-wissenschaftlichen Spagat dar. Dies nicht zuletzt, da man ihr die Expertise des Teams anmerkt, mit dem Romik über rund vier Jahre zusammengearbeitet hat: Expertinnen und Experten aus Archäologie, Geodätie, Dendrologie, Höhlenforschung oder dem Kunsthandwerk halfen Romik sowohl bei der Recherche und Erforschung der bis dahin teils vergessenen oder nur als Gerücht bestehenden Verstecke als auch bei der Realisierung der je einem Versteck entsprechenden Skulpturen aus abgegossenen Oberflächen. Zwei Kuratoren (Stanisław Ruksza, Kuba Szreder) begleiteten den Prozess und gaben ihm die Form einer seinerzeit in Polen viel beachteten Ausstellung. Romik selbst wiederum promovierte an der Londoner Bartlett School of Architecture zu einem Thema (Post-Jewish architecture of memory within former eastern European shtetles), das dem der Ausstellung mindestens nahe ist – wobei sich die Vorsilbe im Wort „postjüdisch“, wie im umfangreichen Ausstellungskatalog zu lesen ist, im polnischen Zusammenhang auf Eigentum bezieht, das früher Jüdinnen und Juden gehörte.Dass in Frankfurt nun die neun Skulpturen und ihre jeweiligen Vitrinen durch einen Raumteiler voneinander getrennt sind, lässt erstere zunächst mehr als für sich stehende Kunstwerke erscheinen, die Vitrinen zunächst als kontextualisierendes Beiwerk. Erst durch eine Kreisbewegung durch den Ausstellungsraum – von den abstrakt scheinenden Skulpturen über die Vitrinen zu den nun plötzlich historisch sehr konkret gewordenen Skulpturen – geht das Konzept der Ausstellung auf: so gleich die Skulpturen farblich sind – Versilberung steht laut Romik im katholisch geprägten Polen als Zeichen für Erhöhung, Erinnerung und Wertschätzung –, so unterschiedlich sind ihre Formen: hier der Abguss eines Schrankteils, dort ein Element eines Regals, anderes so amorph, dass erst die Dokumente in den Vitrinen Aufschluss über die Form geben. So ist die zackige Form mit den regelmäßigen Einkerbungen der Umriss einer Falltür in einem Parkett, die zu einem Versteck in einem Privathaus in Schowkwa in der heutigen Ukraine führte. Eine wie ein drapierter Poncho aussehende lebensgroße Skulptur ist der Abguss eines Teils der sogenannten Josefseiche im polnischen Wiśniowa, ein Baum, der zwei Brüdern als Versteck diente. Der Umstand, dass Romik und ihr Team in den Verstecken (darunter Höhlen, Keller, Kanalsysteme) auch auf – in den Vitrinen gezeigte – Zeugnisse menschlichen Lebens stießen, die sich eindeutig auf die Zeit der Shoah datieren lassen (Knopf, Taschenlampe, Flasche), fügt den Skulpturen, die ohne diesen Kontext ästhetisch eher fragwürdiger Art wären, eine wichtige materielle Komponente hinzu. Vom Schrecken, den die Ausstellung dokumentiert, erzählen diese Fundstücke sogar konkreter als die versilberten Abgüsse.Dafür, dass die Skulpturen nicht als kunstmarktgerechtes Beiwerk einer in den Vitrinen dokumentierten Geschichte mit einem kaum vorstellbaren Ausmaß menschlichen Leids erscheinen, sorgt die Gesamtgestaltung der Ausstellung. Romik ist auch darin erfahren: Im POLIN, dem Warschauer Museum der Geschichte der polnischen Juden, wirkte sie als Gestalterin an der Dauerausstellung mit.Wenn Romik glaubwürdig davon spricht, dass die in Frankfurt gezeigten Skulpturen im Sinn einer Würdigung des Überlebenswillens der ursprünglichen Architektur der Verstecke treu bleiben, ist also eher nicht zu befürchten, dass ihre Arbeiten demnächst neben solchen von Schütte oder Reyle auf einer Kunstmesse auftauchen. Zu wünschen wäre vielmehr, dass sie bald auch im ukrainischen Lwiw gezeigt werden können – ein Plan, der 2022 aus bekannten Gründen bis auf Weiteres verschoben werden musste.Placeholder infobox-1
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