Ist Kant gefährlich?

Argumente Zwei Männer streiten in einem russischen Geschäft über den Philosophen. Plötzlich greift einer zur Waffe. Was passieren kann, wenn Philosophie-Diskurse eskalieren
Ausgabe 38/2013

In der Philosophie gewinnt – im Idealfall – das bessere Argument. Was aber, wenn einem die Argumente ausgehen? Im südrussischen Rostow am Don ist ein Streit um Immanuel Kant eskaliert. Nein, kein akademischer, sondern ein sehr handfester: In einem Geschäft schaukelte sich ein Gespräch zweier Kunden über den Philosophen so sehr hoch, dass einer der beiden schließlich zur Luftpistole griff und schoss. Die Bilanz: ein Verletzter, ein Täter in Polizeigewahrsam – und eine Frage: Hatten die beiden etwa keinen Mut, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen?

Roher Naturzustand

Man muss sich das einmal vorstellen: Die zwei Mittzwanziger stritten nicht etwa darüber, dass einer dem anderen die Frau ausgespannt habe. Es soll, das versichern russische Nachrichtenagenturen, tatsächlich um Kants Philosophie gegangen sein. Das genaue Thema der Auseinandersetzung ist leider nicht bekannt – vielleicht war es der Kategorische Imperativ, vielleicht die reine Vernunft. Diese Stichworte vermögen in Deutschland allerdings nicht einmal mehr im akademischen Umfeld Erregungswellen auszulösen, die einen sensiblen Seismografen erzittern ließen.

In Russland sind die Ideen des Aufklärungsphilosophen dagegen erstaunlich populär. Offenbar so populär, dass man selbst beim Einkaufen über seine Grundsätze aneinandergerät. Kant, Autor der drei berühmten Kritiken, hätte wohl den Kopf geschüttelt über die beiden Streithähne. „Unsere Bestimmung als Menschen ist doch, aus dem rohen Naturzustande als Thier herauszutreten“, schrieb der Philosoph in seiner Schrift Über Pädagogik 1803. Die Erziehung müsse die Kinder Disziplin lehren, um „thierische Antriebe“ – also impulsives, instinktives Handeln – zu unterdrücken.

Unterschätzte Emotionen

Kants Moralphilosophie wurzelt in einem unumstößlichen Glauben an die Vernunft – die Rolle der menschlichen Emotionen unterschätzte der Königsberger Gelehrte aber in all seinen Werken kolossal. In Rostow am Don zeigten sich jetzt 209 Jahre nach Kants Tod die fatalen Langzeitfolgen dieser Fehleinschätzung.

Als einen der beiden Diskutanten erst die Argumente und dann die Geduld verließen, schlug er seinem Gegenüber zunächst mit der Faust ins Gesicht. Der wollte zurückschlagen, konnte sich aber wohl nicht so schnell entscheiden, ob die Maxime dieses Wollens auch zu einem allgemeinen Gesetz taugen würde. Noch bevor die Prüfung des Kategorischen Imperativs abgeschlossen war, hatte der erste Diskutant daher schon seine Luftpistole gezückt – und entschied den Streit so ganz unphilosophisch mit mehreren Schüssen.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Martin Schlak

Journalist und Physiker. Schreibt Geschichten über Wissenschaft. Beobachtet, wie Technologie unsere Gesellschaft verändert.

Martin Schlak

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden