Der Westen erbt, der Osten geht leer aus: Die deutsche Teilung dauert an
Ungleichheit Auch 34 Jahre nach dem Mauerfall steht die Grenze: Einkommensunterschiede werden kleiner, auch die Renten gleichen sich an. Beim Thema Erben aber klaffen alte und neue Bundesländer auseinander
Wer die ehemalige deutsch-deutsche Grenze sucht, findet sie auf dieser Karte leicht
Infografik: der Freitag, Quelle: Ungleiches Deutschland – Sozioökonomischer Disparitätenbericht 2023 der Friedrich-Ebert-Stiftung
Vor wenigen Tagen brachte eine Grafik das soziale Netzwerk X, vormals Twitter, in Wallung: Sie zeigte eine „Auswertung zur Erbschaft- und Schenkungsteuerstatistik“, also eigentlich ziemlich farblosen Stoff. Die Grafik (siehe Abbildung oben) aber ist, je nach der Höhe des geerbten und geschenkten Vermögens, nach Bundesländern eingefärbt: Je dunkler das Blau, desto höher im Durchschnitt die Vermögen, die zwischen 2017 und 2021 auf dem Wege der Vererbung oder Schenkung an die nächste Generation gingen. Während die alten Bundesländer himmelblau blühen, Bayern und Baden-Württemberg gar fast in Nachtblau, sah man in allen fünf neuen Bundesländern: nichts als blasses, fast weißes Hellblau.
Für jeden, der die Gra
jeden, der die Grafik sah, war sofort sichtbar: Hier erben die einen, und die anderen gehen leer aus. Wenn man bedenkt, dass Erbschaften und Schenkungen der Hauptgrund für die Vermögensungleichheit in Deutschland sind, dann sah man hier auch: Das wird so weitergehen. Denn die Kluft wird sich auch in den nächsten 30 Jahren nicht von Zauberhand auflösen, sie wird wachsen. Doch woran liegt diese krasse Ungleichheit zwischen Ost und West? Und was wäre zu tun, um sie zu stoppen?Ein Blick in die Geschichte hilft bei der Erklärung, woher die Unterschiede stammen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde in Deutschland das Steuersystem von den Alliierten oktroyiert. Auf Einkommen wurden Steuersätze von bis zu 95 Prozent erhoben, auf Erbschaften und Schenkungen zunächst unabhängig vom Verwandtschaftsgrad zwischen 14 und 60 Prozent festgesetzt. Von 1948 an mussten Nicht-Verwandte eine Steuer in Höhe von bis zu 80 Prozent bezahlen.Vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden dann mit BRD und DDR aus den vier Besatzungszonen zwei Staaten. Die Politik der Teilung wurde nicht nur geografisch, sondern auch zwischen Kapitalismus und Sozialismus gezogen. Mit Folgen: Die hohen Steuersätze, wie sie die Alliierten gesetzt hatten, hielten sich in der BRD nicht lange, sie waren Ludwig Erhard ein Dorn im Auge. Unter ihm und Bundeskanzler Konrad Adenauer (beide CDU) kam es zu einer Reihe von Steuersenkungen. Bis zur ersten sozialliberalen Regierung unter Willy Brandt (SPD) wurde die Erbschaftsteuer mehrfach geschwächt; erst 1974 erfuhr sie eine Stärkung.Die Treuhand war’sWährend man die Erbschaftsteuer in der BRD senkte, erhöhte man sie in der DDR. Doch nicht nur das: Privatvermögen in der DDR waren ohnehin viel kleiner als in der Bundesrepublik, entsprechend fielen auch die Erbschaften sehr viel geringer aus. Laut der Fachanwältin Constanze Trilsch galten bereits Erbschaften um die 40.000 Mark als bedeutend. In der DDR, anders als in der BRD, gab es lediglich zwei Steuerklassen mit Tarifsätzen zwischen vier und 80 Prozent. Gleichzeitig waren die Freibeträge von 1.000 bis 20.000 Mark anders als im Westen sehr niedrig. Somit waren zum einen die Erbschaften klein, zum anderen fielen die Steuern auf diese vergleichsweise hoch aus – was dazu führte, dass Erbschaften oftmals schlichtweg ausgeschlagen wurden. Mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 erlosch dann auch das Erbrecht der DDR. So weit, so unterschiedlich.Die Wiedervereinigung vollzog auch die Ablösung des Wirtschaftssystems der DDR durch die Soziale Marktwirtschaft. Das öffentliche Vermögen, rechtlich als Volkseigentum gefasst, sollte von einer Treuhandanstalt verwaltet und verteilt werden. Die Treuhand, so die Ursprungsidee, sollte den Menschen im Osten Anteile zu je einem Sechzehnmillionstel, also einen pro Bürger:in zukommen lassen. Das wäre eine gerechte Aufteilung dessen gewesen, was in über 40 Jahren von der gesamten ostdeutschen Gesellschaft erarbeitet worden war. Doch zu dieser Verteilung des Vermögens kam es nicht.Stattdessen wurde die Treuhand zur Eigentümerin von 8.000 Kombinaten und Betrieben, die zügig reorganisiert und privatisiert werden sollten. Auch 50.000 Immobilien und mehr als 25.000 Kleinbetriebe zählten dazu. Allerdings blieben diese nicht etwa bei den Ostdeutschen: 85 Prozent des gesamten einstigen Volkseigentums gingen an Westdeutsche, zehn Prozent wurden von internationalen Investoren gekauft, und lediglich fünf Prozent blieben in ostdeutschem Besitz.Die Bilanz war vernichtend. Was erschwerend hinzukam: War die Treuhand 1990 noch Arbeitgeberin von insgesamt vier Millionen Ostdeutschen, hatten drei Millionen davon bis 1994 ihren Job verloren. So gesehen waren die neuen Bundesländer nach der Wiedervereinigung dreifach gebeutelt: Die DDR insgesamt wurde zu einem einzigen Irrweg erklärt, Millionen Bürger:innen verloren ihren Arbeitsplatz, und das Kapital wurde nicht verteilt, sondern an die Meistbietenden verkauft – ein Wettbewerb, bei dem die Ostdeutschen nicht mithalten konnten.Ostdeutsche besitzen weniger Firmenanteile, weniger Immobilien, und ihre Immobilien sind weniger wertUnd heute? Sehen wir die Folgen auf der oben abgebildeten Karte: Während gegenwärtig im Westen die Generation des Wirtschaftswunders den Babyboomern ihr Erspartes vermacht, ist im Osten kaum etwas da, was es zu vererben gäbe. In den neuen Bundesländern leben etwa 15 Prozent aller Deutschen, doch sind in den letzten zehn Jahren nur zwei Prozent aller Erbschaften und Schenkungen in den Osten geflossen. Besonders gravierend sind die Ungleichheiten in den obersten Rängen: Laut einer Studie von Julia Jirmann, die als wissenschaftliche Referentin beim Netzwerk Steuergerechtigkeit arbeitet, gingen von den steuerbefreiten Unternehmensübertragungen lediglich 1,7 Prozent an Ostdeutsche, von den allergrößten Vermögensübertragungen über 250 Millionen Euro nicht eine einzige.Die aktuelle Erbschaftsteuer trägt indes nicht dazu bei, die hohe Vermögensungleichheit zu verringern; sie verschlimmert diese sogar. Woran das liegt? Nichts anderes ist von einer Steuer zu erwarten, die löchriger ist als ein Schweizer Käse. Zwar ist die Erbschaftsteuer progressiv gedacht. Doch nach Berechnungen des Ökonomen Stefan Bach wirkt sie ab zehn Millionen Euro regressiv. Das heißt: Wer viel hat, dem wird weniger genommen.Sowieso gilt: Wer hat, dem wird gegeben. Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung erhalten rund die Hälfte aller Erbschaften und Schenkungen, die sich auf sage und schreibe etwa 400 Milliarden Euro pro Jahr belaufen. Das ist eine gigantische Summe, von der effektiv nicht einmal drei Prozent besteuert werden: Nur 11,4 Milliarden Euro flossen im vergangenen Jahr durch die Steuer in die Landeshaushalte. Landeshaushalte, die klamm sind: Sie könnten höhere Einnahmen gut gebrauchen.Anstatt die Erbschaftsteuer aber scharf zu stellen, subventioniert der Staat aktuell die Reichsten der Reichen. „Subventionieren“ ist dabei keine Übertreibung: Der Subventionsbericht der Bundesregierung belegt, dass die größte aller Subventionen Deutschlands auf die Bankkonten der Multimillionäre und Milliardäre fließt. Das bedeutet, dass die Ungleichheit durch die bestehende Erbschaftsteuer weiter verschärft wird – und nicht etwa verringert.Erben vertieft die Ungleichheit: Der Abstand wird nicht kleiner, er wächstAuch die letzte Erbschaftsteuerreform 2016 führte zu keiner Trendwende. Im Gegenteil: Sie vergrößerte die Privilegien für Betriebsvermögen sogar. Und wer Betriebsvermögen privilegiert, privilegiert automatisch die vermögendsten Deutschen. Die reichsten 1,5 Prozent verfügen über 97 Prozent aller Betriebsvermögen. Seit 2009 kosten uns die Privilegien für Überreiche bei der Erbschaftsteuer über 78 Milliarden Euro. Die gängigsten Narrative, die das legitimieren, sind: Arbeitsplätze würden gefährdet und der Wirtschaftsstandort Deutschland liefe Gefahr, an Strahlkraft zu verlieren.Tatsächlich gibt es dafür keine empirische Evidenz. Es gab nicht einen einzigen Fall in der Geschichte der Erbschaftsteuer, bei dem Arbeitsplätze verloren gegangen wären. Auf die Frage hin, warum es nicht zu einem verfassungskonformen Gesetz kommt, hat der ehemalige Vizepräsident des Bundesfinanzhofs, Hermann-Ulrich Viskorf, eine klare Einschätzung: „Es gibt keine andere Steuerart, bei der der Gesetzgeber dem Einfluss und dem Druck der Interessenverbände so sehr ausgesetzt ist.“Sowohl der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium als auch ein Bündnis von zivilgesellschaftlichen Akteuren und Denkfabriken – zu denen die Friedrich-Ebert-Stiftung, das Netzwerk Steuergerechtigkeit, Finanzwende, taxmenow, DGB, Verdi und ungleicheit.info gehören – sprechen sich sehr entschieden für eine Reform der Erbschaftsteuer aus, die mit den Privilegien für die Reichsten bricht. Da nicht ein einziger Fall bekannt ist, bei dem Arbeitsplätze verloren gegangen sind, und die Vermögensungleichheit weiter wächst: Warum sollten die Reichsten subventioniert werden?Nicht nur sollten die Steuersubventionen für die Reichsten gestrichen werden. Wir können das Ganze auch ins Positive verkehren – im wahrsten Sinne des Wortes. Einer der Begründer der modernen Ungleichheitsforschung war Sir Anthony Atkinson. In seinem Werk Ungleichheit. Was wir dagegen tun können rechnet der Ökonom vor, wie die Ungleichheit in Großbritannien wieder auf ein Niveau gebracht werden könnte, auf dem sie war, bevor Margaret Thatcher in den 1980er Jahren das Zepter übernahm und den Neoliberalismus zum Gebot der Stunde erklärte. Atkinson war wahrlich kein Kommunist; eine seiner Ideen lautete: Warum nicht ein Grunderbe für alle Bürger:innen etablieren? Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung griff diese Idee auf und beziffert seinen Vorschlag für ein Grunderbe auf 20.000 Euro. Würde es gelingen, die Schlupflöcher in der Erbschaftsteuer zu schließen, könnten die Steuereinnahmen dafür verwendet werden, jedem jungen Erwachsenen diese Summe auszuzahlen.Piketty hätte da eine Idee: Ein Erbe für alleThomas Piketty hingegen spricht von einem Grunderbe in Höhe von 120.000 Euro. Wie er auf diesen Betrag kommt? Geld bedeutet eben nicht nur, dass sich jemand ein schickeres Auto oder Haus kaufen könnte; Geld bedeutet Macht und Möglichkeiten. Wenn das Ziel darin besteht, die gravierende Vermögensungleichheit zu reduzieren und gleichere Lebenschancen für die Breite der Gesellschaft zu ermöglichen, dann müssen wir größer und über 20.000 Euro hinausdenken. Auch Pikettys Vorschlag entstammt nicht bloßem Wunschdenken; es ist nach meinem Befinden sogar der konsequentere Denkansatz. Denn was Piketty tut, ist, das gesamte Steuersystem und Steuergerechtigkeit in den Blick zu nehmen. Es läuft so viel schief im Staate Deutschland. Wie kann es sein, dass Millionäre mit 24 Prozent niedrigere Steuern und Sozialabgaben zahlen als Durchschnittsverdiener, die auf 43 Prozent kommen, wie das Netzwerk Steuergerechtigkeit berechnet hat? Wie kann es sein, dass auf Kapitalerträge nur 25 Prozent Steuern anfallen, auf Einkommen aus Lohnarbeit progressiv bis zu 45 Prozent? Und wie kann es sein, dass wir als Gesamtgesellschaft hinnehmen, dass es zunehmend entscheidender wird, in welche Familie man geboren wird, und nicht etwa, was für einen Beitrag zur Gesellschaft man leistet? Schon heute ist mehr als die Hälfte aller Vermögen nicht erarbeitet, sondern vererbt und verschenkt. Der Ursprung von Milliardenvermögen in Deutschland ist sogar zu 70 Prozent auf Erbschaften und Schenkungen zurückzuführen.Wir können die Dinge so belassen, wie sie sind. Wir können zusehen, wie Erbschaften weiter an Bedeutung gewinnen, und das Leistungsprinzip weiter aushöhlen. Wir können zusehen, während Ost und West sich immer weiter spalten. Wir sollten dabei aber nicht vergessen, woran der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz jüngst erinnert hat: dass wachsende Ungleichheit ein Nährboden für rechtsextreme und autoritäre Kräfte ist. Wir können uns stattdessen für Steuergerechtigkeit und bessere Lebenschancen ganz unabhängig von der familiären Herkunft entscheiden. Was hält uns davon ab? Wie Atkinson einst sagte: „Die Lösungen für Probleme der Ungleichheit liegen in unserer Hand.“Placeholder authorbio-1
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