Das müde Krokodil

Was läuft Über Gérard Depardieu und die erste europäische Netflix-Serie „Marseille“. Spoiler-Anteil 32 Prozent
Ausgabe 19/2016
Depardieu mit seinem Kollegen Benoit Magimel auf der Premiere
Depardieu mit seinem Kollegen Benoit Magimel auf der Premiere

Bild: Bertrand Langlois/Getty Images

Lange vorher war diese Serie angekündigt. In der Wartezeit konnte man Gérard Depardieu bei einer kulinarischen Europa-Tour auf Arte begleiten, ihm zusehen, wie er rohes Fleisch durch eine Wurstmaschine drückte und dann genussvoll eine dicke Salsiccia in sich hineinschlang. Oder wie er in Neapel Pizza backte. Kochen kann man nur mit l’amour – Depardieu, der maßlose Bonvivant.

Nun, endlich, sitzt er im maßgeschneiderten Anzug, aus dem er nicht mal herausplatzt, im Fußballstadion von Olympique Marseille und jubelt: „Wie ich diese Stadt liebe!“ Es sind die letzten Wochen als Bürgermeister Robert Taro, den Depardieu in der ersten französischen Netflix-Serie, Marseille, spielt. Der Vorspann wird untermalt von einem sehnsüchtigen arabischen Lied (Ya Sidi von Orange Blossom), dann Kameraschwenk auf den neuen Hafen mit seinen weißen Yachten, das azurblaue Meer, kurzer Blick auf die Silhouette der Sozialbauten, ein paar Wortfetzen im argot, dem Slang der Betonstädte. Schnitt. Robert Taro steht ehrfürchtig vor der Treppe der imposanten Eingangshalle des Rathauses.

Seit 20 Jahren regiert er die Hafenstadt, jetzt will er aufhören und sich um seine Familie kümmern. Doch wer soll diese herrschaftlichen Mauern ausfüllen, wenn nicht der Koloss? „Ich will, dass Marseille die führende Stadt Südeuropas wird“, erklärt er seinen Parteileuten von der konservativen UPM noch. Taros Blick wandert zu seinem langjährigen Stellvertreter Lucas Barrès. Der soll ihn beerben, und Taro will ihn weiter dirigieren wie einen Sohn. Doch Barrès stellt sich das anders vor. Benoît Magimel spielt die Figur in klassischer Manier: ambitioniert, eloquent, hinterhältig – ein Mann der vielen Gesichter. Magimel ist in Frankreich fast ein Superstar, der junge dekadente Bourgeois war er oft, er drehte mit Claude Chabrol, und er verfiel Isabelle Huppert in der Adaption von Elfriede Jelineks Roman Die Klavierspielerin.

In Marseille begeht er, eiskalt lächelnd, Vatermord. Als es um die Entscheidung für den Bau eines Luxuskasinos am neuen Hafen geht, stimmt Barrès gegen Taro. Die Schlacht beginnt. Es geht um Macht, in dieser ersten auch europäischen Netflix-Serie, um Verrat, Korruption, Sex, Gewalt. So banal es klingt: um Gut und Böse. Der französische Autor Dan Franck hat sich von den US-amerikanischen Politserien Boss, die sich um einen Bürgermeister in Chicago dreht, und House of Cards inspirieren lassen. Der Marseiller Bürgermeister ist aber keine Shakespeare-Figur, kein moderner König Lear, auch kein skrupelloser Politiker wie Frank Underwood. Eher direkt als diplomatisch wie Birgitte Nyborg aus Borgen.

Robert Taro weiß, dass alle käuflich sind, aber er ist kein reiner Machtmensch. Er hat eine Familie, die er liebt, und diese Stadt, die ihm etwas bedeutet. Für Taro existieren moralische Kriterien. Vertrauen. Loyalität. Der Bürgermeister gilt als integer, was macht da die Nase Koks, die er braucht wie andere mittags ihren Pastis? Der jüngere Gegenspieler erscheint als rücksichtsloser Single, pragmatisch, opportunistisch, Sex mit Männern oder Frauen, egal, solange es ihm nützt. Depardieus Taro wirkt dagegen so barock wie ein Fossil. Nach dem Verrat tritt er doch noch mal an. Wer soll sonst Marseille retten?

Denn Marseille dreht sich nicht nur um Taros Zukunft oder die seines Widersachers, sondern auch um die der größten französischen Hafenstadt, schon lange Drehkreuz der globalen Mafia. Nur wessen Marseille eigentlich? Das der Einwanderer, der armen Vorortbewohner, in den Siedlungen Félix Pyat oder La Castellane im Norden? Das wird nur kurz angerissen. Dann sieht man wieder Szenen mit Bougainvilleen, hohen Mauern, Swimmingpools, Bling-Bling-Booten. Das Tor nach Afrika? Der alte Hafen, mit seinen riesigen Fähren nach Tunis und Algier, mit seinen Gestrandeten, ehemaligen Fremdenlegionären, die nicht wegkommen aus dem Moloch? Oder das Araberviertel, mit den engen Gassen, zahllosen Imbissen, dem babylonischen Sprachgemisch?

Er fehlt, der raue Charme dieser schmutzigen Stadt, von dem Jean-Claude Izzo in der „Marseille-Trilogie“ wunderbar erzählt hat. Dennoch möchte man Gérard Depardieu weiter zusehen. „Ein Mensch, der immer nur das Gute tun wollte, muss zugrunde gehen unter so vielen, die nicht gut sind“, hat Niccolò Machiavelli geschrieben. Irgendwann wird es zuschnappen müssen, das müde Krokodil.

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Geschrieben von

Maxi Leinkauf

Redakteurin „Kultur“

Maxi Leinkauf studierte Politikwissenschaften in Berlin und Paris. Sie absolvierte ein Volontariat beim Tagesspiegel. Anschließend schrieb sie als freie Autorin u.a. für Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel und Das Magazin. 2010 kam sie als Redakteurin zum Freitag und war dort im Gesellschaftsressort Alltag tätig. Sie hat dort regelmäßig Persönlichkeiten aus Kultur und Zeitgeschichte interviewt und porträtiert. Seit 2020 ist sie Redakteurin in der Kultur. Sie beschäftigt sich mit ostdeutschen Biografien sowie mit italienischer Kultur und Gesellschaft.

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