Lange vorher war diese Serie angekündigt. In der Wartezeit konnte man Gérard Depardieu bei einer kulinarischen Europa-Tour auf Arte begleiten, ihm zusehen, wie er rohes Fleisch durch eine Wurstmaschine drückte und dann genussvoll eine dicke Salsiccia in sich hineinschlang. Oder wie er in Neapel Pizza backte. Kochen kann man nur mit l’amour – Depardieu, der maßlose Bonvivant.
Nun, endlich, sitzt er im maßgeschneiderten Anzug, aus dem er nicht mal herausplatzt, im Fußballstadion von Olympique Marseille und jubelt: „Wie ich diese Stadt liebe!“ Es sind die letzten Wochen als Bürgermeister Robert Taro, den Depardieu in der ersten französischen Netflix-Serie, Marseille, spielt. Der Vorspann wird untermalt von einem sehnsüchtigen arabischen Lied (Ya Sidi von Orange Blossom), dann Kameraschwenk auf den neuen Hafen mit seinen weißen Yachten, das azurblaue Meer, kurzer Blick auf die Silhouette der Sozialbauten, ein paar Wortfetzen im argot, dem Slang der Betonstädte. Schnitt. Robert Taro steht ehrfürchtig vor der Treppe der imposanten Eingangshalle des Rathauses.
Seit 20 Jahren regiert er die Hafenstadt, jetzt will er aufhören und sich um seine Familie kümmern. Doch wer soll diese herrschaftlichen Mauern ausfüllen, wenn nicht der Koloss? „Ich will, dass Marseille die führende Stadt Südeuropas wird“, erklärt er seinen Parteileuten von der konservativen UPM noch. Taros Blick wandert zu seinem langjährigen Stellvertreter Lucas Barrès. Der soll ihn beerben, und Taro will ihn weiter dirigieren wie einen Sohn. Doch Barrès stellt sich das anders vor. Benoît Magimel spielt die Figur in klassischer Manier: ambitioniert, eloquent, hinterhältig – ein Mann der vielen Gesichter. Magimel ist in Frankreich fast ein Superstar, der junge dekadente Bourgeois war er oft, er drehte mit Claude Chabrol, und er verfiel Isabelle Huppert in der Adaption von Elfriede Jelineks Roman Die Klavierspielerin.
In Marseille begeht er, eiskalt lächelnd, Vatermord. Als es um die Entscheidung für den Bau eines Luxuskasinos am neuen Hafen geht, stimmt Barrès gegen Taro. Die Schlacht beginnt. Es geht um Macht, in dieser ersten auch europäischen Netflix-Serie, um Verrat, Korruption, Sex, Gewalt. So banal es klingt: um Gut und Böse. Der französische Autor Dan Franck hat sich von den US-amerikanischen Politserien Boss, die sich um einen Bürgermeister in Chicago dreht, und House of Cards inspirieren lassen. Der Marseiller Bürgermeister ist aber keine Shakespeare-Figur, kein moderner König Lear, auch kein skrupelloser Politiker wie Frank Underwood. Eher direkt als diplomatisch wie Birgitte Nyborg aus Borgen.
Robert Taro weiß, dass alle käuflich sind, aber er ist kein reiner Machtmensch. Er hat eine Familie, die er liebt, und diese Stadt, die ihm etwas bedeutet. Für Taro existieren moralische Kriterien. Vertrauen. Loyalität. Der Bürgermeister gilt als integer, was macht da die Nase Koks, die er braucht wie andere mittags ihren Pastis? Der jüngere Gegenspieler erscheint als rücksichtsloser Single, pragmatisch, opportunistisch, Sex mit Männern oder Frauen, egal, solange es ihm nützt. Depardieus Taro wirkt dagegen so barock wie ein Fossil. Nach dem Verrat tritt er doch noch mal an. Wer soll sonst Marseille retten?
Denn Marseille dreht sich nicht nur um Taros Zukunft oder die seines Widersachers, sondern auch um die der größten französischen Hafenstadt, schon lange Drehkreuz der globalen Mafia. Nur wessen Marseille eigentlich? Das der Einwanderer, der armen Vorortbewohner, in den Siedlungen Félix Pyat oder La Castellane im Norden? Das wird nur kurz angerissen. Dann sieht man wieder Szenen mit Bougainvilleen, hohen Mauern, Swimmingpools, Bling-Bling-Booten. Das Tor nach Afrika? Der alte Hafen, mit seinen riesigen Fähren nach Tunis und Algier, mit seinen Gestrandeten, ehemaligen Fremdenlegionären, die nicht wegkommen aus dem Moloch? Oder das Araberviertel, mit den engen Gassen, zahllosen Imbissen, dem babylonischen Sprachgemisch?
Er fehlt, der raue Charme dieser schmutzigen Stadt, von dem Jean-Claude Izzo in der „Marseille-Trilogie“ wunderbar erzählt hat. Dennoch möchte man Gérard Depardieu weiter zusehen. „Ein Mensch, der immer nur das Gute tun wollte, muss zugrunde gehen unter so vielen, die nicht gut sind“, hat Niccolò Machiavelli geschrieben. Irgendwann wird es zuschnappen müssen, das müde Krokodil.
Kommentare 2
Marseille, das muss ich mal eingestehen, war für mich seit ich mit 12 oder so Dumas' Graf von Monte Christo gelesen hatte, ein Sehnsuchtsort. Das hat sich später noch wesentlich verstärkt durch andere Literatur (wie Izzo auch) und Filme und durch die provenzalisch-okzitanisch beeinflusste örtliche Popmusik (Kennen Sie Massilia Soundsystem?!). In den neunzigern bin ich dann mal da gewesen. Die neoliberale De- und Re-Urbanisierung fing gerade an. Eigentlich läuft das ja aber schon seit der ersten Zerstörung des Hafenviertels durch die Nazis (oder seit Baron Hausmanns Zeiten? - ich schweife ab...).
Ja, also die TV-Serie. Depardieu kann man sich immer angucken. (Er hat ja auch - mag man gar nicht glauben - den m.M.n. bisher interessantesten Monte Christo in der vierteiligen Neuverfilmung Mitte der 90er abgegeben.) Ich hab mir also den ersten Teil angesehen. Naja, den Auftakt geben mit einer Koks-Linie, das fand ich schon vor einigen Wochen bei einer anderen mit Erwartungen verknüpften TV-Serie ("Vinyl", Jagger/Scorcese) recht platt, ein Klischee, oder? Die Szenen in den Banlieue, die "gefährlichen" "Beurs", das wirkt alles ziemlich gestylt. Aber das ist ja eigentlich im TV eher normal geworden.
Weiter habe ich die Serie noch nicht angesehen, ob ich es tun werde, weiß ich noch nicht.
Danke für den Text.
Schön ist, dass der Freitag sich zwischenzeitlich auch dem Medium Qualitätsserie in angemessener Ausführlichkeit widmet. Allerdings, mit Verlaub: Marseille ist ein schlimmer Hype. Oberflächlich, vorhersehbar, klitscheehaft und Durchschnitts-Mengenware wie ein x-beliebiger Sat1-Eventfilm. Meine persönliche Durchhaltepower jedenfalls betrug – mit Ach und Krach – eine Folge.
Aufschlussreich an der Serie (die man eigentlich schnell vergessen kann) ist lediglich, wie schnell die bislang auf Qualität versierten Networks (wozu Auftraggeber Neflix zweifelsohne gehört) auf die Linie eingeschwenkt sind, zwecks Generierung von schnellem Erfolg nunmehr auf Kopien eingeführter Erfolgsserien zu setzen. Heute ist es House of Cards. Game oft Thrones befindet sich (als Vikings und The Last Kingdom) ebenfalls längst in der Recycling-Schleife; Homeland dürfte demnächst wohl ebenfalls entsprechende Kloneversuche nach sich ziehen.
Um beim Konzept der Polit-Serie zu bleiben: Vielleicht sollte die Redaktionen (eventuell auch beim Freitag) jemand einmal davon in Kenntnis setzen, dass es für (gelungene) Politserien weitaus mehr Beispiele gibt als das stetiglich rauf und runter aufgeführte Doppel House of Cards und Borgen. Zu nennen wäre beispielsweise die italienische Serie 1992. Ebenso die vor einigen Monaten auf den Markt gebrachte HBO-Serie Show Me a Hero. Übrigens: Auch in den Medien bekam Marseille eher verhaltene, durchmischte Resonanz. Beispiel: Carolin Ströbele, die die Serie auf Zeit Online als »glattgoliertes Stück Polit-Entertainment« charakterisierte.