Ein freier Blick

Porträt Margot Vanderstraeten ging im kurzen Rock zu ihrem Job, stellte den Orthodoxen unbequeme Fragen. Antworten gab es immer
Ausgabe 28/2019

Sie kommt mit dem Fahrrad zur Centraal Station, dem Bahnhof von Antwerpen, der mehr an eine Kathedrale erinnert. Margot Vanderstraeten trägt ein kakifarbenes kurzärmeliges Kleid, offene Haare. „Lass uns zur Bäckerei Steinmetz gehen, Schabbat fängt in ein paar Stunden an und sie schließen bald“, sagt sie. Es ist später Freitagvormittag.

Wir kommen in die Lange Kievitstraat, gelegen zwischen Bahnhof und Volkspark. Da ist sie plötzlich, diese andere Welt. Männer in schwarzen Coats und mit hohen schwarzen Hüten, Jungs mit Kippa und Schläfenlocken, die auf Tretrollern vorbeirasen. Frauen schieben Kinderwagen über den Gehweg, die meisten tragen schwarzen Rock, lange Bluse und Nylonstrumpfhose. Margot Vanderstraeten kann umgehend erkennen, ob sie Perücke tragen oder nicht, modern oder ultraorthodox sind. Ein gelb-rotes Motorrad parkt an der Straßenecke. „Hatzoloh“ steht in großen Lettern darauf – die jüdische Gemeinde hat ihre eigene Notfallambulanz im Schtetl an der Schelde.

In der Bäckerei Steinmetz herrscht Gedränge, alle kaufen Barches, das geflochtene Weißbrot für Schabbat, das hier zuhauf in den Regalen lagert. „Hallo, ich bin Margot von Masel Tov“, grüßt sie – das Buch, das sie über ihre Zeit als Nachhilfelehrerin bei einer jüdisch-orthodoxen Familie geschrieben hat. Der beleibte Verkäufer mit kurzem Bart, weißem Hemd, Hosenträgern und Kippa kommt gleich auf sie zu. „Mein Sohn Josef hat Ihr Buch gelesen“, sagt er, „darf ich ein Foto für ihn machen?“ Dann schneidet er zwei große Stück aus dem Käsekuchen vom Blech. Weiter zu Hoffy’s, einem koscheren Restaurant. Vorn an der gläsernen Theke kann man sich jiddische Gerichte anschauen und aussuchen, die Frauen kaufen ein, sie fangen schon mittags mit dem Kochen an. Wenn die Sonne untergegangen ist, wird serviert.

Margot Vanderstraeten tritt herein, winkt einem der Männer hinter der Theke. Er sieht gar nicht wie ein klassischer Chasside aus, hat die Schläfenlocken hinterm Ohr versteckt, sein grauer Bart ist mehr ein dünner Zopf. „Moshe Hoffmann“, stellt sie vor, einer der drei Brüder, die das Restaurant betreiben.

Nylon und Pfeffer

Männer und Frauen in ihren traditionellen Kleidern plaudern im Lokal auf Flämisch, Jiddisch, Französisch, viele Männer haben einen dicken Schlüsselbund an der schwarzen Hose baumeln, für die Synagoge und das Geschäft, auch für zu Hause, weil man am Schabbat keine elektrische Klingel benutzen darf. Wenn man solche alltäglichen Szenen sieht, wird einem auf einmal bewusst, was in Deutschland fehlt. In Antwerpen leben circa 20.000 orthodoxe Juden. Eine junge Frau kommt ins Restaurant, Nylonstrumpfhosen mit dicker Naht, auch ihr Haar trägt sie traditionell. Ihr Dress ist weiß, aber lang: modern und orthodox.

Moshe Hoffmann bringt Obstsalat und Kaffee an den Tisch, er erzählt von seinen Eltern, die aus Ungarn nach Antwerpen kamen, 94 Jahre ist seine Mutter alt. Dann lobt er Masel Tov (dt: Viel Glück), ihr Buch. „Es ist gut, weil es real ist. Es ist kein Märchen. Da ist Pfeffer drin.“ Auch seine Kinder lesen es. „Diese Resonanz aus der jüdischen Community ist immer noch seltsam für mich“, sagt Margot Vanderstraeten. „Ich hätte das nie gedacht, aber sie mögen das Buch. Sie fühlen, dass es eine warme, menschliche Beziehung zwischen mir und den Schneiders war.“

Anfang der 90er Jahre heuerte sie als Studentin bei der Familie an, deren Namen sie im Buch ändert, sie haben osteuropäische Wurzeln und sind wohlhabend. Sie unterrichtete die Kinder, brachte ihnen Fahrradfahren bei, hörte in Krisenmomenten zu, konfrontierte sie mit Fragen des Glaubens und des Lebens. „Warum hast du keine Kinder? Du wirst welche haben, oder?“, sagte Madame Schneider beim Einstellungsgespräch. Mijnheer Schneider nimmt sie einmal mit in sein schlichtes Büro im Diamantenviertel, wo er – wie die meisten orthodoxen Antwerpener Juden – tätig war. Er erzählt ihr Witze. Die drei schmalen Straßen mit kameraüberbewachten Geschäften hat man schnell durchquert, vor der Börse sind junge weibliche Militärs und ein Panzer postiert.

Durch den engen Kontakt zu Tochter Elzira und Sohn Jakov gelangt Margot Vanderstraeten immer tiefer in diese verschlossene Welt. Mit der Zeit öffneten sich die Schneiders, sie machen zusammen Matzebällchen, sie respektieren Margots Leben. Sie war da Mitte 20 und mit einem Iraner zusammen, der als Kommunist aus seinem Land geflohen war. Auf ihrer Balkonbrüstung hing ein Banner: „Nein zum Golfkrieg!“ Wenn Leute ihren Freund kennenlernten, hätten sie oft gesagt: „Aber er ist ja gar kein typischer Iraner.“ Oder wenn sie von den Schneiders redete: „Da gehst DU hin, zu diesen Juden? Du mit deinen kurzen Röcken?“

Arafat und matchen

Sie nimmt in der Familie Schneider kein Blatt vor den Mund: „Warum müsst ihr diese langen Klamotten tragen? Warum ist die Schule nach Jungs und Mädchen getrennt? Warum kommt ihr nie aus eurem Viertel raus?“ Es sind unbequeme Fragen, aber sie erhält Antworten. Elzira erzählt ihr von der Suche nach einem Ehemann durch das Schadchen, die Heiratsvermittlerin. Frauen können Nein sagen, in modern-orthodoxen Familien ist es möglich. „Und wenn man hundert Mal Nein sagt?“ – „Das wird nicht passieren.“ Arrangierte Ehen, das sei ein bisschen wie Leute, die sich heute im Internet treffen, sagt Margot Vanderstraeten, alle wollen matchen. Später war sie bei Elziras Hochzeit in New York.

Als der Vater mal eine linksradikale Zeitung in ihrem Rucksack sah, vorn ein Bild von Arafat, bat er sie, die Zeitung nicht mehr in sein Haus zu bringen. Es ist dann eine Freundschaft entstanden, die Schneiders luden auch den persischen Freund zu sich nach Hause ein. „Und gleichzeitig fühlte ich mich als Außenseiterin. Ich gehörte nicht dazu.“ Sie beneide sie um ihr Gemeinsamkeitsgefühl, ihre Lieder, ihre Traditionen. „Ich konnte es fühlen, dass da etwas war, das ich in meinem Leben vermisste. Aber es war etwas, das sie nur für sich haben.“ Sie sei damals auf der Suche gewesen, wollte sich von ihrem katholischen Hintergrund befreien. „Ich habe versucht, mit meinen eigenen Flügeln zu fliegen, mich neu zu erfinden, vielleicht auch mit einem iranischen Freund.“

Margot Vanderstraeten ist in Limburg aufgewachsen, einer flämischen Provinz, 90 Kilometer von Antwerpen. Die Mutter war Grundschullehrerin, der Vater Angestellter, eine Mittelschichtsfamilie. „Mein Großvater war Bergmann, arbeitete unter Tage, er ist an Lungenkrebs gestorben. Meine Eltern dachten: Wir müssen besser sein, weil er für uns gestorben ist.“ Arbeit war wichtig.

In der Schule hatten alle gemischten Hintergrund. „Wir waren sechs Flamen und der Rest Polen, Spanier, Italiener, Türken, Marokkaner. Das hat mich beeinflusst.“ Sie lebte nicht in der Nachbarschaft, fuhr jeden Tag nach der Schule heim. Sie bekam die alltäglichen Probleme nicht mit. Wenn sie an Geburtstagen marokkanische Kinder eingeladen hat, sind die nicht gekommen. Für ihre Eltern sei sie ein schwieriges Kind gewesen, erzählt die heute 51-Jährige. „Ich war zwischen 12 und 17 Jahren in drei Schulen und sollte diszipliniert werden“, sie wechselt in ein gebrochenes Deutsch. „Ich war neugierig, wollte über Grenzen gehen, das hat meine Eltern ängstlich gemacht.“ Mit 15 kam sie auf ein katholisches Internat, fand das fantastisch. Es war offen, da waren gute Lehrer, die sie mit Büchern gefüttert haben. Sie hat verstanden, dass es auch progressive Katholiken gab. Sie ging dann auf die Dolmetscherschule in Antwerpen, ist Journalistin geworden und hat mehrere Novellen veröffentlicht.

Masel Tov wurde in Belgien und den Niederlanden ein Bestseller. Die belgische Königin Mathilde sagte auf die Frage, welches Buch sie in ihrem Leben am meisten bewegt habe: Masel Tov. Sie ließ sich dann durch die Ausstellung über orthodoxe Juden führen, die Margot Vanderstraeten 2018 gemeinsam mit dem Fotografen Dan Zollmann organisiert hat. Sogar Moshe aus dem Hoffy’s war da und erzählte etwas über seine Community. Er sei ein Chasside, der einen Dialog mit dem Rest der Gemeinschaft suche. „Viele Chassiden wollen das nicht.“

Margot Vanderstraeten wurde Vermittlerin zwischen der einen und der anderen Welt, sie öffnet die Tür in diese Gemeinschaft, die normalerweise unter sich bleibt. Läuft man mit ihr durch die Straßen, an Synagogen vorbei, streng militärisch bewacht, wird Margot Vanderstraeten hin und wieder angesprochen. Männer mit Pelzmütze auf dem Kopf schauen uns in die Augen. Sie hat etwas angestoßen.

Koschere Kugeln

„Manche Leser sagen zu mir: Das macht es interessant, du traust dich, Fragen zu stellen. Andere Chassiden haben mich in der U-Bahn angesprochen: Sie hätten dieses Buch niemals schreiben dürfen!“ Zu einer Lesung in Polen seien viele junge Leute gekommen, „die waren begeistert, dass mein Buch so leicht und normal ist, nicht so düster, wie sie das kannten.“ Sie bekomme jetzt manchmal Anfragen, wenn in Israel mal wieder was passiert, was sie dazu sage. Das lehnt sie ab. Botschafterin will sie nicht sein. Aber sie ist populär. Als ihr heutiger Mann, ein Niederländer, vor ein paar Wochen ein feines Restaurant an einem ruhigen Platz in der Altstadt aufmachte, da druckte ein Magazin ein Foto von ihr, wie sie da vor dem Laptop sitzt und schreibt.

Am Nachmittag ist es ruhig im Viertel, die Geschäfte sind zu. „Du musst unbedingt noch Yossie und Naomie treffen“, sagt sie, „eine modern-orthodoxe Familie wie die Schneiders.“ Naomie sei Grafikdesignerin und habe die Einladungskarten zur Ausstellung gestaltet. Vorher muss Margot Vanderstraeten noch kurz mit dem Hund raus und ein anderes Kleid anziehen (mit langen Ärmeln). Wir kaufen Blumen, radeln zur Wohnung nahe dem Volkspark.

Yossie Reh öffnet die Haustür, kaum Bart, Kippa, hellblaues Hemd. Ein breite Eingangstreppe führt in den Salon, der Esstisch im Wohnzimmer ist festlich gedeckt, an den Wänden hängen religiöse Malereien in Goldrahmen. Er serviert „Kugeln“, Kartoffelpfannkuchen mit überbackenen Zwiebeln, nimmt auf dem Ledersessel Platz, durch die Glasfront sieht man den Garten. Der Vater Franzose, die Mutter Israelin, er war in London auf dem College, studierte BWL in Baltimore, betreibt jetzt in Antwerpen einen Textilhandel. Aber am liebsten bewege er sich im „Club“, wie er das Jüdischsein nennt. „Die Amerikaner haben den 4. Juli, hissen die Flagge und machen Barbecue. Wir zünden Freitagnacht die Kerzen an und essen koscher.“

Er macht eine kurze Pause, guckt eindringlich. „In Deutschland warnte die Regierung vor Kurzem: Tragt eure Kippa nicht auf der Straße“, sagt er dann. „Was ist die Botschaft? Juden, versteckt euch!“

Weniger Diamanten, mehr Synagogen

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Stadt Antwerpen die Juden gebeten, zurückzukehren und die Diamantenbranche wieder aufzubauen, die seit eh und je in jüdischer Hand war. Hinter den nüchternen Fassaden verbirgt sich der größte Handelsplatz für Edelsteine. Die meisten Familien kamen aus Israel oder Georgien.

In den letzten Jahren geht das Geschäft aber zurück und wird zunehmend von Indern oder Chinesen übernommen. Viele jüdische Familien verarmen langsam. Auch politisch wird die Lage unsicherer.
Nach Terroranschlägen auf den Brüsseler Flughafen und die Innenstadt 2016 stehen auch in Antwerpen schwer bewaffnete Soldaten vor den (inzwischen fast 60) Synagogen. Auch hier werden rechtspopulistische und nationalistische Parteien wie Vlaams Belang populärer. Antwerpen galt dank seines Welthafens und offener Zuwanderungspolitik als internationale Stadt – mit 173 Nationalitäten. Wie in anderen westeuropäischen Großstädten machen muslimische Einwohner auch in Antwerpen dort lebende Juden für den Nahostkonflikt verantwortlich. Margot Vanderstraeten, 1967 geboren, schreibt unter dem Pseudonym J. S. Margot
Romane und Novellen. Als Journalistin führte sie regelmäßig Interviews in der belgischen Tageszeitung De Standaard.

Ihr Bestseller Masel Tov (Piper 2019) wurde in mehrere Sprachen übersetzt, darunter Deutsch, Englisch, Französisch, Polnisch. Als Teenager las sie Christiane F. Wir Kinder vom Bahnhof Zoo und war tief beeindruckt. Margot Vanderstraeten lebt mit Mann und Hund in der Antwerpener Altstadt

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Maxi Leinkauf

Redakteurin „Kultur“

Maxi Leinkauf studierte Politikwissenschaften in Berlin und Paris. Sie absolvierte ein Volontariat beim Tagesspiegel. Anschließend schrieb sie als freie Autorin u.a. für Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel und Das Magazin. 2010 kam sie als Redakteurin zum Freitag und war dort im Gesellschaftsressort Alltag tätig. Sie hat dort regelmäßig Persönlichkeiten aus Kultur und Zeitgeschichte interviewt und porträtiert. Seit 2020 ist sie Redakteurin in der Kultur. Sie beschäftigt sich mit ostdeutschen Biografien sowie mit italienischer Kultur und Gesellschaft.

Maxi Leinkauf

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden