Hinter dem Nebel der Cloud

Digitalisierung Die Wirtschaft entmaterialisiert sich nicht. Etwas anderes geht hier vor sich

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„Hinter dem Nebel der Cloud erkennt man: Alles menschgemachte ist aus Erde, Fleisch und Blut.“
„Hinter dem Nebel der Cloud erkennt man: Alles menschgemachte ist aus Erde, Fleisch und Blut.“

Foto: Carl Court/Getty Images

Wie wichtig ist doch die Digitalisierung in dieser schwierigen Zeit! Homeoffice wäre unmöglich ohne Videocalls und Emails. Freunde und Familie wären unendlich weit entfernt ohne Skype und Whatsapp. Restaurants könnten ohne Lieferdienste nicht überleben. Doch diese Erzählung ist unvollständig. Nur in solch einer unvollständigen Erzählung kann die Digitalisierung Krisenerlöser, statt Krisenauslöser sein. Nur in einer unvollständigen Erzählung bietet Digitalisierung Chancen, statt die Ungleichheit anzutreiben. Höchste Zeit, sich der kompletten Geschichte anzunehmen.

Un(an)greifbare Wertschöpfung

Hier um die Ecke ist ein Restaurant. An normalen Abenden ist das Restaurant voll ausgebucht. Zur Zeit bleiben die Tische aber natürlich leer. Nur vereinzelt stehen auf den Tischen ein paar Papiertüten. Vor dem Restaurant warten bereits die Lieferando-Fahrer darauf, die Tüten mitzunehmen, sie in ihre quaderförmigen Rucksäcke zu packen, in die Pedale zu treten und in die Dunkelheit zu verschwinden.

Seit Lieferando den Lieferdienst Deliveroo letztes Jahr übernommen hat, haben sich die Arbeitsbedingungen ein wenig gebessert. War es bei Deliveroo noch der Fall, dass die Fahrer formell selbstständig waren und somit auf Arbeitsversicherungen und ein planbares Einkommen verzichten mussten, sind sie bei Lieferando nun angestellt. Doch rosig sind die Arbeitsbedingungen bei Weitem nicht. In der Regel handelt es sich um Minijobs. Die Fahrer müssen ihr eigenes Handy und Internetvertrag stellen, oftmals auch ihr Fahrrad. Die App, die sie nutzen, überwacht sie genau und erstellt Leistungsprofile. Digital gezahltes Trinkgeld kommt oft nicht rechtzeitig bei den Fahrern an [1]. Und in Köln wurde von Lieferando versucht, die Wahl des Betriebsrates zu torpedieren [2].

Schätzungsweise arbeiten in Deutschland etwa 2,7 Millionen Menschen für mindestens die Hälfte ihres Einkommens über digitale Plattformen. In einer Auswertung der Arbeitsbedingungen dieser Plattformen kommt Lieferando auf Platz 5 von 10. Es geht also auch noch deutlich schlechter. Beispielsweise beim ‚Amazon Flex‘ Lieferdienst oder bei Uber [3].

Digitale Plattformarbeit ist das neueste Kapitel einer langen Geschichte der Ausbeutung und sollte keineswegs ungeachtet bleiben. Der dazu forschende Soziologe Heiner Heiland spricht von einer „Erosion etablierter Arbeitsverhältnisse“ [4].

Die Arbeitsverhältnisse erodieren. Die dominanten Erzählungen bleiben bestehen. Gerne wird die Mär einer entmaterialisierten Wirtschaft beschworen. Informationen seien der Rohstoff des 21. Jahrhunderts. Wertschöpfung fände nicht länger in Fabrikhallen statt, sondern in den Köpfen junger Entrepreneure. Es gehe um smarte Apps, disruptive Ideen und Dienstleistungen. Im Fachjargon spricht man von Intangibles, also dem Ungreifbaren. Und dass die Wertschöpfung solch ungreifbarer Güter das Wirtschaftsgeschehen bestimmt, scheint auch nicht anzufechten zu sein. Die weltweit erfolgreichsten und wertvollsten Unternehmen sind ja tatsächlich Amazon, Google, Facebook, Microsoft und co.

Die Erzählung über die entmaterialisierte Wirtschaft und die ungreifbaren Gütern sollte aber spätestens in Anbetracht der jetzigen Corona-Pandemie stutzig machen. Denn gerade jetzt wird auch dem letzten klar: Das Greifbare, das Materielle hält den Mensch am Leben. Auf einmal scheint es so etwas wie systemrelevante Berufe zu geben. Auf einmal sorgt man sich um die Versorgung mit Nahrungsmitteln, die Produktion von Atemschutzmasken und Impfstoffen.

Ist da noch Platz für eine entmaterialisierte Wirtschaft?

Ein Lieferando-Ursprungsmythos

Am Anfang war die App. Bevor auch nur eine Pizza ausgefahren werden konnte, musste die App programmiert werden. In der entmaterialisierten Wissensgesellschaft brauchte es dafür vor allem eines: Ideen. Schwerelos und immateriell. Woher kommen diese fast schon spirituellen Entitäten, die Ideen? Wie fängt man sie ein? Man braucht schlaue Köpfe. Und für schlaue Köpfe braucht man Bildung. Noch so ein federleichtes Wort. Und wo entsteht Bildung? In gar nicht so federleichten Gebäuden, Universitäten und Schulen zum Beispiel. Gebäuden mit einem Elektrizitäts- und Heizungsnetzwerk, Gebäuden mit Reinigungskräften und Hausmeistern, Büroangestellten und Computern, Dozenten und Tageslichtprojektoren. Alles materiell, alles greifbar.

Aber wenn die Idee dann mal da ist, dann ist sie doch wirklich federleicht und immateriell. Dann wandert die Idee kilometerweit, über Landesgrenzen und den ganzen Globus. Ohne abzunutzen, schafft die Idee aus dem Nichts neuen Wert. Oder etwa nicht? Wir könnten einmal die Lieferandofahrerin fragen. Ob sie sich so federleicht fühlt mit dem Fahrrad, und dem Handy, das sie selber stellen muss? Und es hört nicht bei der Fahrerin auf. Das Mobilfunknetz, das die Pizzabestellung übermittelt, das Stromnetz, das den Strom transportiert, die Kraftwerke, die die den Strom produzieren und natürlich der Pizzabäcker, der die Pizza bäckt: All das wird benötigt, damit man sich über Lieferando eine Pizza bestellen kann. Wo genau ist hier die ungreifbare, immaterielle Wertschöpfung?

Technikfetischismus

Es war Karl Marx, der den Begriff des Warenfetischismus prägte. Warenfetischismus meint, dass die Ware einem zunächst als ein recht triviales Ding erscheinen mag. Die Ware erscheint als ein bloßer Gegenstand wie jeder andere. Ein Irrtum! Die Ware ist deutlich mehr als nur ein Gegenstand. Was die Ware zur Ware macht, ist ihr Verhältnis zu anderen Waren. Das Verhältnis zwischen den Waren bestimmt ihre Preis. In diesem Warenverhältnis spiegeln sich historisch geformte Hierarchien und Machtkonstellationen in der Gesellschaft wieder und manifestieren sich. So kann nach Marx der Mehrwert (sprich: der Profit) einer Ware nur durch die Ausbeutung der Arbeiter entstehen. Beim Warenfetischismus täuscht also das triviale Äußere über die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse hinweg.

Die geläufige Wahrnehmung von moderner Technologie steht dem Marx‘schen Warenfetischismus in nichts nach. Was man wahrnimmt, ist die glänzende Oberfläche des Displays, das minimalistische Design der Apps und die Bequemlichkeit, mit der man sich Pizzas und Bücher bestellt, Ferienwohnungen mietet, Taxifahrten ordert oder das Wort Fetischismus googelt. Darüber hinaus ist man blind für das was hinter diesen Diensten steht. Blind für das, was sie materiell überhaupt erst möglich macht. Der Anthropologe Alf Hornborg schlägt dafür das Wort „Technikfetischismus“ vor [5].

Wenn ich sage, man ist blind für das Materielle, dann meine ich die Nutzer der Dienste und diejenigen, die sich als Experten dafür ausgeben und Politiker beraten. Es sind explizit diejenigen, die das Privileg haben, Digitalisierung als abstrakten Trend wahrnehmen zu können. Es sind diejenigen, die aus der Ferne beobachten können, statt sich selbst die Hände schmutzig machen zu müssen.

Ein Musterbeispiel für solche Experten mit sauberen und schwielenfreien Händen sind Jonathan Haskel und Stian Westlake. 2018 erschien ihr Buch „Capitalism without Capital“. Der Titel deutet bereits auf die Hauptaussage des Buches hin: das greifbare Kapital, das Materielle, also Maschinen, Produktionsanlagen und Warenhäuser verlören zunehmend an Relevanz für die Wertschöpfung im 21. Jahrhundert.

Leider sieht die Wirklichkeit ganz anders aus. Noch nie hat die Menschheit so viele Ressourcen verbraucht wie jetzt. Der aktuelle Trend zeigt einen exponentiellen Anstieg des Ressourcenverbrauchs. Die Zahlen geben keinerlei Grund zur Annahme, dass sich dieser Trend ändern sollte.

Ganz offensichtlich entmaterialisiert sich die Wirtschaft nicht, sondern benötigt immer mehr Ressourcen [6]. Die Digitalisierung treibt den globalen Energiebedarf in neue Höhen. Wer darauf mit potenziellen Effizienzeinsparungen kontert, hat das Wesen eines Wachstum-getriebenen Wirtschaftssystems grundlegend missverstanden. Und was die Automatisierung von Arbeitsplätzen angeht, ist es ganz und gar nicht geklärt, ob Arbeitsplätze tatsächlich verschwinden, oder nur dorthin wandern, wo man sie weniger sieht; hinter die Oberfläche der Lieferando-App oder in Länder mit niedrigeren Arbeits- und Lohnstandards zum Beispiel.

Denn: Noch nie war die globale Ungleichheit so hoch. Konträr zu dem, was beschönigte Statistiken der UN einen glauben lassen wollen, erleben wir einen weltweiten Höchststand an Armut und Hunger. Derzeit leben zwischen 3,5 und 4,3 Mrd. Menschen in Armut (60% der Weltbevölkerung!!). Davon hungern 1,5 bis 2,5 Mrd Menschen [7]. Solange es diese Menschen in Not gibt, wird man sie ausbeuten können. Schließlich ist die Ausbeutung einfacher Arbeit oftmals deutlich günstiger als die Automation einfacher Arbeit. Das was wir als produktive Technik bezeichnen, ist nur produktiv weil die Arbeitskraft und Ressourcen all dieser Menschen ausgebeutet werden. Kein Handy funktioniert ohne seltene Erden oder wäre erschwinglich bei durchweg fairen Löhnen. Vom Traum der automatisierten Arbeitswelt sind wir meilenweit entfernt.

Die Diagnose von Haskel und Westlake bedarf also schon einer enormen intellektuellen Verrenkung und ideologischen Kurzsichtigkeit. Klar, Google und Facebook besitzen keine große Infrastruktur, Uber keine Taxis und AirBnB keine Ferienwohnungen. Aber all das müssen sie auch gar nicht besitzen. Sie müssen nur darauf zugreifen können. Und der Zugriff auf diese materielle Basis fällt natürlich um einiges leichter, wenn man bestreitet, dass die eigene Wertschöpfung irgendetwas mit dieser materiellen Basis zu tun hätte.

Ein geerdeter Blick

Die entmaterialisierte Wissensgesellschaft ist eine Farce. Eine Farce, die wahr wird, sobald man an sie glaubt. Glaubt man Lieferando, Google oder Facebook, dass sie wirklich nur ein digitaler Dienst seien, wird man sie auch so behandeln. Es ist die verkürzte Wahrnehmung dieser digitalen Unternehmen und nicht deren geschöpfter Wert, der sie so reich macht. Könnte Lieferando profitabel sein, wenn es seinen Arbeitern anständige Löhne, Fahrräder und Handys anbieten müsste? Könnte Google oder Facebook profitabel sein, wenn es an den Kosten des Baus und Erhalts der globalen Internet-Infrastruktur beteiligt werden würde? Sicherlich nicht!

Gleichzeitig werden gerade diese Unternehmen weiterhin die Weltwirtschaft dominieren, wenn man weiterhin leugnet, dass das Digitale mit der materiellen Basis zusammenhängt. Joseph Schumpeter hebt die Unterscheidung zwischen drei Produktionsfaktoren hervor: Kapital, Land und Arbeiter. Der Wahrnehmung moderner digitaler Technik ist es geschuldet, dass die Verbindung von Kapital zu Land und Arbeitern zunehmend verwischt. Einem Unternehmen, das alle Verbindungen zur materiellen Basis leugnet, wird es leicht fallen, Land und Arbeiter besonders effektiv auszubeuten und sich so einen enormen Wettbewerbsvorteil zu sichern.

Das bringt uns schließlich wieder zurück zum Anfang, zur Rolle der Digitalisierung in dieser Pandemie. Scheinbar hat die Technik ja so viele Folgen gelindert. Aber wer von den Ursachen schweigt, sollte nicht von den Folgen reden. Digitalisierung ist der wohl wichtigste Treiber der Globalisierung und damit auch Treiber zunehmend verflochtener Wertschöpfungsbeziehungen. Ohne diese Verflechtungen wäre aus einer Epidemie keine Pandemie geworden. Dazu kommen noch die ökologischen Folgen eines rasant steigenden Energiebedarfs und die zunehmende Ausbeutung von Arbeitern durch den Anstieg nicht-traditioneller Arbeitsverhältnisse.

Das alles ist Zündstoff für jetzige und zukünftige Krisen. Maßnahmen zur Entschärfung sind komplex und vielfältig. Und doch beruhen alle Maßnahmen auf der gleichen Einsicht. Hinter dem Nebel der Cloud erkennt man: Alles menschgemachte ist aus Erde, Fleisch und Blut.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Max Pieper

Geschichten über den Fortschritt und uns.

Max Pieper

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