Jedem, der Frauen dabei hilft, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen, drohen in manchen US-Bundesstaaten hohe Haft- und empfindliche Geldstrafen. Vor etwas mehr als einem Jahr, am 24. Juni 2022, wurde die seit 50 Jahren geltende Grundsatzentscheidung zum Abtreibungsrecht, in den USA bekannt als „Roe versus Wade“, durch den Supreme Court gekippt. Die Entscheidungsgewalt ging zurück an die Gesetzgeber der einzelnen US-Bundesstaaten. Seitdem wurden in den Vereinigten Staaten bereits mehr als 500 „Abortion Bills“ erlassen, in 14 US-Bundesstaaten gibt es ein strenges Verbot für Abbrüche.
„Diese Anti-Abtreibungsgesetze sind willkürlich und viel zu vage“, sagt der US-amerikanische Gynäkologe und emeritierte Professor der Washington U
shington University in St. Louis, L. Lewis Wall. „Sie werden von großspurigen, politisch ehrgeizigen Generalstaatsanwälten durchgesetzt, die getrieben von ihrem fundamentalistisch-religiösen Denken und ohne ausreichende Kenntnis über die Bandbreite möglicher Schwangerschaftskomplikationen Ausnahmeregelungen für den Schwangerschaftsabbruch listen, die von der Realität weit übertroffen und niemals alle erfasst werden können.“ In den US-Bundesstaaten South Carolina und Texas scheiterten bislang noch Versuche, die Todesstrafe auch auf Abbruchsfälle gesetzlich festzuschreiben. Die Wirkung auf die Bevölkerung aber bleibt. Aufgrund der Rechtsunsicherheit haben Abbruchkliniken in manchen Bundesstaaten, wie im demokratisch geführten Wisconsin und republikanischen North Dakota, ihre Arbeit schon eingestellt.Es trifft vor allem die ArmenDa es landesweit keine Einheitlichkeit mehr gibt, löse das Urteil des Obersten Gerichtshofs große Verunsicherung unter Ärzten und Geburtshelfern aus, so L. Lewis Wall. Bereits bevor „Roe vs. Wade“ gekippt wurde, sahen sich Anbieter von Schwangerschaftsabbrüchen in 21 US-Bundesstaaten mit neuen hohen personellen und instrumentellen Auflagen konfrontiert. Die Behandlungskosten verteuerten sich so sehr, dass sie für viele Frauen eine unüberwindbare Hürde darstellen. Mit dem Versand der Abtreibungspille Mifepriston bot sich diesen Frauen, die keine Aussicht auf einen legalen Abbruch oder eine Behandlung in ihrem Bundesstaat mehr hatten, eine Alternative. Doch die schrittweise Verschärfung der Gesetze für Telemedizin und den Versand im Rahmen eines Schwangerschaftsabbruchs treffen in manchen US-Bundesstaaten jene Frauen besonders hart, die mit einem geringen Einkommen und ohne Krankenversicherung leben. Sie können sich die Reise- und Behandlungskosten in einem anderen Bundesstaat nicht leisten.Selbst in den Staaten, in denen Abbrüche möglich sind, können sie den medizinischen Eingriff kaum finanzieren: Rund zwei Drittel der Frauen, die keinen Anspruch auf die sozialhilfeabhängige, öffentliche Gesundheitsfürsorge Medicaid (Medical Assistance) haben, sind People of Color, wie es in einer Pressemitteilung des Guttmacher Institute in New York, einem unabhängigen Forschungsinstitut zur Reproduktionsmedizin, heißt.Zulassungsentzug für AbtreibungspilleDazu kommen Frauen ohne US-Staatsbürgerschaft, die in den ersten fünf Jahren ihres Aufenthalts in den USA ohnehin nicht leistungsberechtigt und somit von der öffentlichen Fürsorge ausgeschlossen sind. Der Höhepunkt der Auseinandersetzungen um Schwangerschaftsabbrüche war zuletzt ein Rechtsstreit um den Entzug der Zulassung für die Abtreibungspille Mifepriston durch die US-Arzneimittelbehörde FDA. Das seit dem Jahr 2000 zugelassene Präparat wird bei jedem zweiten Abbruch in den Vereinigten Staaten eingesetzt.Der Zulassungsentzug hätte weitreichende Folgen für den Zugang zur Abtreibung auch in vorwiegend demokratisch regierten Staaten, in denen dieses Frauenrecht noch geschützt ist und die Gesetze liberaler sind. Es wäre der effektivste Schachzug der Gegner und ein Durchbruch für die radikalen Kräfte im Land. In sechs US-Bundesstaaten konnte ein medikamentöses Abbruchsverbot bereits durchgesetzt werden; in Wyoming ist ein solches Gesetz seit Juli in Kraft. Käme das zuständige Berufungsgericht in Louisiana im Herbst zu der höchstrichterlichen Entscheidung, die Aussetzung der Zulassung für Mifepriston sei berechtigt, wäre das ein weiterer Meilenstein für ein Abbruchsverbot auf Bundesebene. Es wäre das Ende für all jene Dienstleister, die sich auf die medikamentöse Abtreibungsmethode spezialisiert haben, so das Guttmacher Institute. Während des laufenden Verfahrens bleibt das Präparat weiterhin zugänglich.Anstieg der Müttersterblichkeitsrate befürchtetIm Dezember 2022 änderte die FDA überraschend das Label für das seit 2013 zur Notfallverhütung eingesetzte Medikament „Plan B One-Step“ und stellte damit klar, dass es sich um kein Mittel zum Schwangerschaftsabbruch handelt. In einigen US-Bundesstaaten spiele es trotzdem keine Rolle, dass das Präparat lediglich die Einnistung des Eies in der Gebärmutter verhüte, erklärt L. Lewis Wall. Die Probleme, die mit solchen Gesetzen übergangen werden, sind oft tiefer und komplexer: Im US-Bundesstaat Texas geht jeder zweite mütterliche Todesfall bis sechs Wochen nach der Geburt auf Drogenmissbrauch, mütterliche Suizide, finanzielle und soziale Sorgen sowie Femizide zurück und nicht auf Komplikationen nach der Einnahme von Mifepriston. Die Suizidrate bei Frauen im gebärfähigen Alter stieg nach einer aktuellen Studie in JAMA Psychiatry in Staaten mit restriktiven Abtreibungsgesetzen auf fast sechs Prozent. Experten befürchten einen Anstieg der für eine Industrienation ohnehin beispiellosen Müttersterblichkeitsrate.Anstatt Frauen aber eine umfassende Beratung bei Krisenschwangerschaften anzubieten, wurden in 20 US-Bundesstaaten religiöse, staatlich geförderte „Krisenschwangerschaftszentren“ und „Choose-Life“-Programme initiiert, in denen Frauen davon abgehalten werden sollen, ihre Schwangerschaft abzubrechen. Experten befürchten, dass sich mit dieser Anti-Abtreibungspolitik und weiteren Beschränkungen des Zuganges die Diskriminierung und somit erleichterte Kriminalisierung von Women of Color im Land weiter verschärfen könnte. Mit ihrem radikalen Politikkurs in manchen US-Bundesstaaten im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2024 könnten die Bewerber um das Amt die Bedeutung des Grundrechts auf einen Schwangerschaftsabbruch für die US-amerikanische Bevölkerung unterschätzen. Während in den USA die Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche deutlich zurückgeht, sprachen sich die meisten US-Amerikaner nach dem Sturz von „Roe vs. Wade“ gegen eine Verschärfung der Abbruchsgesetze aus.Eine Minderheit ist für radikale AbtreibungsverboteWie Daten des gemeinnützigen Public Religion Research Institute zeigen, forderten im Dezember 2022 nur sieben Prozent der US-Bevölkerung ein absolutes Verbot. Selbst in Texas stehen nur 14 Prozent der Menschen hinter dem totalen Verbot ihrer Regierung.Politische Machtkämpfe, die auf dem Rücken der Frauen ausgetragen werden und auf dem der ärmeren Bevölkerung, spalten die US-Bevölkerung weiter, anstatt notwendige Brücken zu bauen: Während 71 Prozent der nichtweißen Katholiken sich für protektive Abbruchsgesetze aussprechen – sicher auch, weil sie unter den strengen Verboten am Ende mehr zu leiden haben – unterstützen diese lediglich 27 Prozent der weißen, evangelikalen Christen. Hinter Forderungen nach strengen Abbruchsverboten stecke ein extremes Maß an Intoleranz, sagt L. Lewis Wall. Frauen, die aus ihrer zugedachten Rolle, Ehefrau und Mutter, herausfielen, würden oft als direkte Bedrohung für den sozialen Status und die Position fundamental-christlicher Frauen wahrgenommen.Placeholder infobox-1