Medizin Trotz aller feministischer Kämpfe werden die Symptome von Frauen nicht ernst genommen. Kein Wunder: Krankheitsbilder von Frauen werden kaum erforscht. Wie kann man diesen Gender Health Gap endlich schließen?
Mit dem Herzen ist es wie mit einigen anderen typischen Frauenleiden: zu geringe gesellschaftliche Relevanz
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Wenn die Frau hyperventiliert, sich ein Ring um ihre Brust legt, sich eine Faust zwischen ihre Schulterblätter oder in ihren Solarplexus gräbt, dass sie kaum noch atmen kann; wenn sich ein Netz aus kaltem Schweiß über ihre Stirn legt, ihr übel wird und sie vielleicht noch kraftlos in sich zusammensinkt, dann ist das ein echter Notfall. Wenn eine junge Frau im gebärfähigen Alter nach Blutuntersuchung, EKG, Sonografie, Computertomografie des Bauchraumes und vielleicht noch einer Magenspiegelung gesagt bekommt, „wir können nichts finden, schöne Frau, da ist nichts“, spätestens dann kriechen Panik und Angstschweiß aus den Poren. Wenn sie dann noch weiterkämpft, weil ihr Körper ihr etwas anderes sagt und er ihr nicht g
t gehorchen mag, kommt die Pflegefachkraft mit der notverordneten Beruhigungstablette um die Ecke. Die Frau wird entlassen, wenn sie nicht spätestens jetzt den Hut nimmt. Sie hofft, nie wieder solch heftige unspezifische Beschwerden zu bekommen, die in kein medizinisches Schema passen und mit denen sie ungefragt in das ohnehin überlastete Gesundheitssystem hineinplatzen würde.Alles Einbildung also? Oder ist die Frau einfach nur zu kompliziert? Zu oft endet es für die Frau tödlich. „Wenn Frauen vom Unterkiefer bis zum Unterleib starke Beschwerden haben, die sie so nicht kennen, sollte man immer frühzeitig auch an das Herz denken“, sagt Marc-Michael Becker, Chefarzt am Zentrum für Frauen-Herzen am Rhein-Maas-Klinikum in Würselen. Häufig wird in internistischen Praxen, Ambulanzen und von Notfallsanitätern noch die Frage nach der Schmerzausstrahlung in den linken Arm gestellt, die nur auf den arteriosklerotischen Herzinfarkt des Mannes passt. Die Gendermedizin hat nicht erst gestern erkannt, dass ganze Organsysteme, wie auch das Reizleitungssystem des weiblichen Herzens, bei Frauen anders funktionieren.So weiß man, dass Frauen bei einer ganzen Reihe von Arzneimitteln ein deutlich höheres Risiko für gefährliche Herzrhythmusstörungen, sogenannte Torsade-de-Pointes-Tachykardien, haben. Diese werden meist von Wirkstoffen ausgelöst, die im Reizleitungssystem des Herzens die Zeit zwischen Erregungsausbreitung und Repolarisation in beiden Herzkammern verlängern. Bei manchen Betablockern, Neuroleptika, Antidepressiva, Opioiden, Antibiotika, Mitteln gegen Migräne, Übelkeit oder Erbrechen können Frauen mit einem Herzschlag von 300 bis 500 Schlägen pro Minute reagieren, also viel zu schnell. Das Herz kann dann keine ausreichende Blutmenge mehr auswerfen, was einem Herzstillstand gleichkommt. Nicht immer findet das Herz gleich in den gewohnten Takt zurück, sodass Lebensgefahr besteht.Null-Ahnung-SymptomeErst seit zwei Jahrzehnten ist es Vorschrift, dass der weibliche Stoffwechsel in deutschen Pharmatests berücksichtigt sein muss. Bei frauenspezifischen Krankheiten liegt der Anteil weiblicher Probandinnen heute noch bei nur etwa zwölf Prozent. Um teilnehmen zu können, müssen sie mit Pille und Kondom verhüten. Mittlerweile weiß man aber, dass auch Geschlechtshormone Aufnahme, Wirksamkeit und Verstoffwechselung von Medikamenten oder den Herzschlag beeinflussen.Eine Femineus-Liste, eine Liste der für Frauen potenziell gefährlichen Wirkstoffe, fehlt bis heute. Anders in der Altersmedizin, wo die sogenannte Priscus-Liste 83 ungeeignete Wirkstoffe für Senioren listet. Immerhin will Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) verpflichtende Angaben zu genderspezifischen Wirkungen und Nebenwirkungen in Beipackzetteln einführen. Manche Frauen stellen sich nach sehr intensiven Ereignissen, einer heftigen Krise im Leben, mit Verdacht auf einen Herzinfarkt in Praxen oder einem Krankenhaus vor. „Der weibliche Körper ist in diesem Moment voller Stresshormone, den Katecholaminen“, sagt Intensivmediziner Marc-Michael Becker. „In der Regel ist das weibliche Herz fähig, die Aufnahme der Hormone über die Rezeptoren schneller runterzuregulieren als ein Mann. Die volle Wirkung dieser Katecholamine bleibt aus.“Im Herzultraschall sieht man bei Frauen mit starken Symptomen dann eine typische Bewegung: „Die Füllungsphase (Diastole) des Herzens ist noch normal, aber in der Austreibungsphase (Systole) kontrahiert die Herzspitze nicht mehr und wirft auch kein Blut mehr aus“, fährt der Kardiologe fort. „Aufgrund der eingeschränkten Herzleistung nach einem schweren Schicksalsschlag spricht man dann von einem „Broken Heart“, im Fachjargon „Takotsubo-Kardiomyopathie.“Einige Frauen entwickeln die eingangs beschriebenen, stark ausgeprägten Symptome, die Mediziner erst hilflos „Symptom X“, also „Null-Ahnung“, nannten. Übliche Diagnoseverfahren sind bis heute wenig hilfreich. Erst in einer Herzkatheteruntersuchung mit speziellen Tests, wie der Gabe des körpereigenen Botenstoffs Acetylcholin, mit dem das Herz kontrolliert unter Stress gesetzt wird, kann schließlich bei Flussmessungen in den Herzkranzgefäßen eine spastische Verengung festgestellt werden. Sie kommt unter anderem bei einer seltenen Form der behandelbaren Vasospastischen Angina, einer Verkrampfung der Herzkranzgefäße, vor. Doch wird der Test von den Krankenkassen nicht voll refinanziert und daher oft gar nicht erst durchgeführt.An der Technik liegt es nichtEine andere Form des Myokardinfarktes kommt bei Frauen im gebärfähigen Alter vor: die Spontane Koronararterien-Dissektion. Wenn eine Schwäche der Gefäßwände vorbesteht, zum Beispiel durch entzündliche Veränderungen, Bindegewebserkrankungen oder die Einnahme von Hormonen, können unter zusätzlichem intensivem Stress, einer Geburt oder einer akuten Hormontherapie bei künstlicher Befruchtung, kleinste Blutgefäße in der Arterienwand oder die Innenschicht der Koronararterie reißen. In der lockeren Bindegewebsschicht bildet sich dann ein Bluterguss, der die Arterie verengt und den Blutfluss gefährlich verzögert oder irritiert.Was aber tun, wenn Ärzte nur unzureichend oder gar nicht auf den weiblichen Infarkt eingestellt sind? Karl Lauterbachs Forderung nach gendermedizinischer Fort- und Weiterbildung und einer Verankerung der Gendermedizin in der Arztausbildung, wie im Koalitionsvertrag angekündigt, ist überfällig. Der Deutsche Ärztinnenbund und die Studierenden im Hartmannbund fordern schon länger eine verpflichtende Einführung. Doch bliebe sie kraftlos, wenn das Know-how nicht auch flächendeckend bei Rettungsdiensten, MTAs am Tresen, Hebammen und ambulanten Pflegekräften ankäme.In der Entwicklung von geeigneten Diagnoseverfahren, Therapien und im Bereich der Kommunikation fehlt es an einem beherzten Vorangehen, um den Gender Health Gap zu überwinden.An modernster Technik mangelt es jedenfalls nicht. MRTs mit 7-Tesla-Magnetstärke könnten neue Erkenntnisse über die Funktion weiblicher Organsysteme ermöglichen. Biomarker, wie das hochsensitive Troponin I, das bei einem weiblichen Herzinfarkt frühzeitiger reagiert, könnten weiterentwickelt und weitere genderspezifische Biomarker erforscht werden. Nur wenige Kliniken machen davon Gebrauch. Wie mit dem Herzen ist es mit einigen anderen typischen Frauenleiden. Fibromyalgie, oder das prämenstruelle Syndrom sind noch unterfinanzierte Forschungsbereiche mit offenbar zu geringer gesellschaftlicher Relevanz, während der Markt für Schönheitsoperationen hingegen wächst.