Kunstbiennale in Venedig: Sturmwarnung in der Lagune
60. Biennale Warum sich die immer wieder totgesagten Länderpavillons in Venedig noch lohnen und die Hauptausstellung „Foreigners Everywhere“ irritierend konservativ ist
Da mag man nicht mitsprechen: Open Group bespielen den Polnischen Pavillon mit Aufnahmen ukrainischer Zivilist:innen
Foto: Jacopo Salvi/Archiwum Zachety
Hat sich die Venedig-Biennale mit ihren Länderpavillons nicht überholt? Lohnt es sich überhaupt, nach Venedig zu fahren? Im Zusammenhang mit der alle zwei Jahre stattfindenden Großausstellung zeitgenössischer Kunst werden immer diese beiden Fragen gestellt. Sie beantworten sich nach dem Besuch eindeutig. Reist hin! Nachdem sich die Kassler Documenta als Überblicksschau zeitgenössischer Kunst verabschiedet hat, zeigt sich das Kunstfeld in und parallel zur Esposizione internazionale Biennale d’Arte di Venezia, wie die Veranstaltung offiziell heißt, vielseitiger und reicher als an jedem anderen Ort.
Ihre Anziehungskraft liegt gerade in den immer wieder totgesagten nationalen Pavillons, die die Bühne Venedig seit Jahrzehnten dazu nutzen, den Be
en, den Begriff Nation und nationale Identität zu konterkarieren oder unerhörten Stimmen im eigenen oder anderen Ländern Raum zu geben. Gelungene Beispiele dafür gibt es bei der nunmehr 60. Ausgabe der Biennale in den Giardini, den ansonsten öffentlichen Gärten Venedigs im Osten der Stadt, und außerhalb zuhauf.Der Polnische Pavillon verschlug uns den AtemAm beeindruckendsten war der Polnische Pavillon. Partizipation, Teilhabe, ein Zauberwort der Biennale, pur. Doch was nach Mitmachkunst aussah, zog gerade dadurch in Bann, dass es den Impuls des Publikums, mitzumachen, rasch unterdrückte.Mit der Ausführung des Pavillons hat die neue Kulturadministration direkt nach ihrer Vereidigung vergangenen Dezember das Kollektiv Open Group von Yuriy Biley, Pavlo Kovach und Anton Varga betraut – und den noch unter der rechten PiS-Regierung ausgewählten nationalistischen Großmaler wieder ausgeladen. Open Group bieten nun ein monumentales Kriegskaraoke. Großformatig projiziert das Trio auf die Querseiten des Pavillons die Videos Repeat after Me aus den Jahren 2022 und 2024. Biley, Kovach und Varga haben in einem Flüchtlingslager bei Lwiw Zivilisten aller Altersgruppen immer in der gleichen Einstellung gefilmt, nah, frontal und im Freien, Unbehausten. Nach einer kurzen Vorstellung ihrer Person erzählen sie von ihrem Trauma, den Geräuschen, die eine Granate, eine herannahende Bombe, ein Maschinengewehr machten. In den englischen Untertiteln wird das „zzzzz-piu“ eingefärbt, wie man es von Karaoke kennt. Doch der Aufforderung, einzustimmen, mochten meine Begleiterinnen und ich nicht Folge leisten, obwohl vor den Leinwänden Mikrofone zum Mitsprechen aufgestellt waren. So sehr verschlug es uns ob der Präsenz der Erzählenden den Atem.Kunst ist eben mehr als schöner Schein und Vehikel für diese oder jene Botschaft. Sie kann Anderem und Anderen eine Stimme geben, in der Verdichtung oder Verweigerung, hier der Teilhabe, Empathie, Unmittelbarkeit und Aktualität herstellen.Viele Länderpavillons konnten dem Biennale-Motto Foreigners Everywhere / Überall Fremde des Künstlerischen Direktors Adriano Pedrosa etwas abgewinnen. Wael Shawky im Ägyptischen, mit einem Video zum ägyptischen Volksaufstand 1882 als veristische Oper in Candy-Colours und historischen Kostümen. Geschichte wird clever gegen den Strich gebürstet. Oder die in Leningrad geborene, 1989 nach Wien geflohene Anna Jermolaewa im Österreichischen, die mit einer dem Russland-Ukraine-Krieg entronnenen Tänzerin mittels inszenierter Videodokumentation und Requisiten im Raum doppelte Böden des Widerstands ins staatstragende Schwanensee-Ballett einzieht. Ebenso Yael Bartana und Ersan Mondtag im Deutschen Pavillon, der zur erdschweren Erinnerungsbühne um kabbalistische Heilsversprechen und verratene Migrationsschicksale wird. Doch selten gelang eine so kluge Reflexion auf das eigene Medium, die gute von weniger guten Kunst unterscheidet, wie im Polnischen Pavillon.Großartig, schön und riecht verlockendDas lag vor allem an den Überbietungsveranstaltungen vieler Länderpavillons, die getreu dem Biennale-Titel ihre Ränder, bisher Vernachlässigtes, Kolonialgeschichte, Indigene, Mitglieder der LGBTQ+-Communitiy ins Scheinwerferlicht zerrten.Dabei blieben häufig Konsistenz und Durcharbeitung der Präsentation auf der Strecke. Die Präsentation im Niederländischen Pavillon des kongolesischen Künster:innen-Kollektivs CATPC, das, angeregt durch den Künstler Renzo Martens, über eine selbstverwaltete Plantage wunderbar schräge Skulpturen aus Schokolade herstellt und vertreibt, ist zwar großartig und schön und riecht dazu noch verlockend. Holland war nach dem ersten Weltkrieg mit der Firma Unilever an der Ausbeutung des Kongo beteiligt. Eine Auseinandersetzung mit seiner unmittelbaren Kolonialgeschichte in Indonesien hätte dem Land jedoch eher gestanden.Kein gutes Zeichen. Das Riesenland Indonesien ist übrigens wie das zweitgrößte nach Einwohnern, Indien, in der 60. Biennale-Ausgabe nicht vertreten. Bei so viel Unterhaltung fällt das vielen nicht auf. Manchen noch nicht einmal, dass der israelische Pavillon als Zeichen für einen raschen Waffenstillstand in Gaza und die Freilassung der israelischen Geiseln erst gar nicht eröffnet worden ist. Für Ablenkung war gesorgt. So setzt der Schweizer Pavillon auf den binationalen Schweizer-Brasilianer Guerreiro do Divino Amor. Eine über LED-Rotoren animierte Trans-Göttin führt aus ihrem Tempel in ein Kuschelboudoir, in dessen Kuppel mainstreamtaugliche Trigger der LGBTQ+-Szene auf Klischees der Deutschschweiz prallen.Das wird sein Publikum finden, wie der munterbunte US-amerikanische Pavillon, in dessen Hof gewaltige rotlackierte Sockel gestapelt sind, auf denen sich das Publikum von Tag eins an gerne in Selfie-Szene setzte. Sie stammen von Jeffrey Gibson, homosexuelles Mitglied der Choctaw und Cherokee und so der erste Native American, der die USA in einer Einzelausstellung in Venedig vertritt. Auch ihm geht es darum, das Ausgestoßene, Marginalisierte ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Das führt im Pavillon zu einem All-over geometrischer Muster und Figuren in leuchtenden Farben, die Gibson als Protest gegen eine abgeklärt-graue Mainstream-Moderne versteht. Ebenso das groovige 9-Kanal-Splitscreen-Video zum Abschluss seiner Ausstellung, in dem die ehemalige Miss Native American Sarah Ortegon mit popkulturellen Stereotypen gegen exotistische Vorurteile antanzt. Das ist professionell gemacht, erfüllt die Erwartungen und ist allerdings schnell wieder vergessen.Archie Moore beeindruckt mit einem GedenkraumNicht so der Australische Pavillon, den ebenso ein Mitglied der First Nations, Archie Moore, gestaltete und dafür zu Recht den Goldenen Löwen für den besten Länderpavillon erhielt. Auch hier wird ein beeindruckender Gedenkraum geschaffen. Der Künstler legte auf einem ausgreifenden Podest inmitten eines Abstand gebietenden Bassins Stapel geschwärzter Akten aus, die die rassistische Ausgrenzungspolitiken der australischen Regierung dokumentieren. Zum Kontrapunkt ließ Moore auf die schwarzen Wände mit Kreide einen biblischen Stammbaum schreiben, der die Lebenslinien seiner Ahnen, der Kamilaroi/Bigambul, bis ins Heute und auf verschiedene Kontinente weiterverfolgt. Moore setzt bildstark auf Distanz zum Objekt, Reflexion und Aufklärung statt auf Überwältigung. Oder modisch gesagt: Statt auf „Immersion“.Die Konkurrenz auch aus der kommerziellen digitalen Virtual Reality ist so groß, dass sich das Kunstfeld spätestens seit Anfang der 2000er Jahre mit interaktiven, „immersiven“ Erlebniswelten überbieten muss. Wir erleben das in Venedig nicht nur bei der Schweiz und Deutschland, sondern auch im Französischen, Britischen oder Serbischen Pavillon, letzteren bespielt Aleksandar Denić. In seiner Exposition Coloniale bewegt sich das Publikum gleich wie ein Darsteller in einem Filmset, das ihm die Realität eines Grenzpostens an der EU-Außengrenze nahebringen will.Die immersiven Anstrengungen der Länderpavillons werden in Venedig derzeit nur noch von der Ausstellung Monte di Pietà im Ca‘ Corner della Regina überboten, die nicht ans Biennale-Programm angegliedert ist. Hier segelt der Schweizer Christoph Büchel als Gast der Fondazione Prada mit einer Materialschlacht sondergleichen. Der barocke Palazzo war lange Zeit eine Pfandleihanstalt. Das veranlasste Büchel dazu, über Gewinn und Verlust, Waren- und Geldflüsse nachzudenken. Er verwandelte den gesamten Palast in virtuelle Verkaufs- und Office-Räume für Gebrauchtes, vollgestopft mit Klamotten, echten Bomben, Vorderladern, Blumenvasen, echtem Schmuck, echtem Tinnef, echten Tizian-Gemälden, Fahrrädern und Nerzmänteln, während das Mezzaningeschoss Einsicht in die eben erst verlassenen Überwachungs-, Feier- und Partyräume des Personals gab. Ausladend opulente Kapitalismuskritik. Dazu gehören Kapital und Chuzpe.Eine Steilvorlage für Pietrangelo Buttafuoco?Daneben macht sich die Biennale brav und bieder aus. Gerade dort, wo sie sich redlich bemüht. Das trifft vor allem für die Hauptausstellung Foreigners Everywhere ihres Direktors Adriano Pedrosa in den weiten Ausstellungshallen der Giardini und den Arsenale zu. Dort präsentiert er sauber und dramaturgisch geschickt über dreihundert Künstler:innen überwiegend aus dem lateinamerikanischen Raum, von denen auch Kunstfeldprofis kaum etwas gehört haben dürften. Auch das beeindruckt, überwältigt, hinterlässt aber ein schales Gefühl. Pedrosa setzt insbesondere auf Malerei. Es geht ihm zwar vor allem um das Fremde im Eigenen, die andere Moderne, abseits der hegemonialen Zentren USA und Europa. Doch er treibt den Teufel mit dem Beelzebub aus. Für Fotografie, Video, Konzeptkunst und Performance hat der Kurator wenig übrig. So konservativ-museal kam bisher keine Biennale-Hauptausstellung rüber. Eine ungewollte Steilvorlage für den mit den Neofaschistischen sympathisierenden Pietrangelo Buttafuoco? Er wurde von Giorgia Melonis Gnaden unbefristet zum neuen Präsidenten der Venedig-Biennalen ernannt. Das bedeutet Sturmwarnung in der Lagune.Placeholder infobox-1
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