Foucault verbieten?

Missbrauchsvorwürfe Der französische Philosoph steht unter einem ungeheuren Verdacht. Müsste man ihn jetzt nicht folgerichtig canceln?
Ausgabe 15/2021
Foucault verbieten?

Collage: Ira Bolsinger, Material: Imago Images

Nun hat es einen der Guten erwischt. Der 1984 verstorbene französische Philosoph Michel Foucault gilt als Vordenker einer neuen akademischen Linken. Auch wenn es vermehrt Korrekturen an diesem Bild gab, sogar „neoliberale Tendenzen“ in seinem Werk gesehen wurden (der Freitag 47/2019), steht außer Frage, dass er Gendertheorie und Postcolonial Studies mit seiner „Diskursanalyse“ geprägt hat. Wer heute von Biopolitik oder Ausschlussmechanismen spricht, tut das implizit oder explizit mit Bezug auf ihn.

Dieser Meisterdenker steht nun also unter dem ungeheuren Verdacht, als junger Mann Sex von minderjährigen Jungen erkauft haben. Der Publizist Guy Sorman bezichtigte Foucault, regelmäßig kleine Jungs vergewaltigt zu haben während seiner Jahre als Hochschullehrer in Tunis, als er in einem benachbarten Künstlerdorf lebte. „Ich habe gesehen, was Foucault mit jungen Kindern in Tunesien gemacht hat und mir lange vorgeworfen, es damals nicht angezeigt zu haben“, so Sorman in einer TV-Sendung schon vor ein paar Wochen.

Die „Bombe“ zündet in Frankreich bis heute nicht, nur ein paar rechte Zeitschriften berichteten, die linken und liberalen Blätter schweigen. Außerdem interessierte sich die Arab Times. Kein Wunder, denn den Vorwurf des Kolonialisten erhob nicht nur Sorman, sondern auch Chantal Charpentier. „Foucault führte sich wie ein scheußlicher Kolonialist auf, und ich möchte mir nicht vorstellen, wie er sexuell mit den Jungen des Dorfes umging. Aber Beweise, dass er sie missbrauchte, habe ich nicht“, wird die Journalistin auf Zeit Online zitiert. Auch Sorman blieb den Beweis schuldig.

Weitere Stimmen werden nun allmählich zitiert. Sie sagen mal so, mal so. Es bleibt der Schatten des Verdachts. Vermutlich bleibt er da stehen. Das ist unangenehm, wer unter einem solchen Verdacht steht, kriegt es deshalb ab. Denken Sie an Woody Allen, der für seinen letzten Film keine Verleiher in den USA mehr fand. Wenigstens die Werke muss man gegen den Künstler verteidigen, lautet der liberale Konsens gegen solche Exorzismen.

Im Fall Foucault ist das leider nicht so einfach. Hier hat man es nämlich mit dem beklemmenden Sachverhalt zu tun, dass das Werk den Verdacht eher stützt, ihn vielleicht sogar mit hervorgebracht hat. Werk meint hier zum einen die heute skandalös klingende öffentliche Intervention Foucaults zum „Schutzalter“, das er ablehnte, weil es der „Pathologisierung der Gesellschaft“ Vorschub leiste.

Zum anderen ist da sein Spätwerk Sexualität und Wahrheit. Es wurde zu Recht berühmt durch seine These, dass die moderne Gesellschaft keineswegs den Sex verboten habe, vielmehr unaufhörlich von ihm spreche und dabei behaupte, dass er verboten sei; Foucault nannte das die „Repressionshypothese“. Dagegen setzte er das einprägsame Bild der „großen sexuellen Predigt“. Gleichsam hinter dieser Predigt agierte eine „Polizei des Sexes“, die diesen regelt, in ungefährliche Bahnen lenkt. Opfer, wenn man so, will, ist die „frühreife Sexualität der Kinder“, zu der es im vorchristlichen Zeitalter ein weniger moralbehaftetes Verhältnis gab. In seiner Darstellung des Wandels in der griechischen Kultur wird er deutlich. „Was sich geändert hat, ist nicht der Geschmack an den Knaben, auch nicht die Beurteilung derjenigen, die diese Neigung haben, sondern die Weise, wie man sie erörtert.“ Die meisten haben solche Stellen wohl einfach überlesen.

Der Fall wirft grundsätzliche Fragen einer Kultur auf, die Ambivalenzen und Abgründe zunehmend durch Verbote und Diskursverweigerungen entsorgen möchte. Was wäre der richtige Umgang? Foucault war berühmt für sein „philosophisches Lachen“, das er dem beschränkten Blick auf unsere Welt entgegensetzte. Eine berühmte Stelle aus seinem Werk zitiert eine alte chinesische Enzyklopädie: „a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere“ etc. Diese Ordnung entspricht erkennbar nicht der unseren. Solange man das allgemein auf vermeintlich feste Strukturen der Gesellschaft bezog, stimmte man gerne in sein Lachen ein. Aber nun?

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

Michael Angele

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden