Schön verkommen

Roman Mit Simon Raven lanciert der Elfenbein Verlag wieder einen Autor mit Kultpotenzial
Ausgabe 10/2020

Mit dem Romanzyklus Ein Tanz zur Musik der Zeit von Anthony Powell ist dem feinen Elfenbein Verlag zu Recht ein Coup gelungen. Nun legt der Verlag mit Powells Landsmann Simon Raven (1927 – 2001) nach. Almosen fürs Vergessen heißt dessen Zyklus, der erste nun veröffentlichte Band ist schlicht nach dem Helden der Reihe benannt: Fielding Gray. Das Original erschien 1967, es war nicht der erste Roman der Reihe, aber der im Zeitenlauf am frühesten angesiedelte, und er spielt in einem ähnlichen Milieu wie Powells Tanz – der britischen oberen Mittelschicht – und zu einer vergleichbaren Zeit – dem tiefen 20. Jahrhundert, hier im Jahr 1945.

Reden wir nicht um den heißen Brei herum und fragen: Vermag der Roman die hohen Ansprüche der Powell-Fangemeinde zu befriedigen? Nun, nach dem ersten Viertel des Romans war ich geneigt zu sagen: nein. Denn hier wird uns ein Coming-of-Age-Roman verkauft, der zwar ganz interessant ist – ein siebzehnjähriger College-Schüler und Fabrikantensohn entdeckt die Homosexualität, verliebt sich in einen Mitschüler, verführt ihn, das Ganze wird zur einer delikaten und schmerzvollen Sache, die durch die zuweilen drastische Schilderung von Sex erstaunt, was dann auch für die heterosexuellen Kontakte gilt, die Fielding gleichfalls pflegt – aber ein packender Gesellschaftsroman ist das nicht.

Nach weiteren zweihundert Seiten ist dieser Christopher ein ..., aber das sei hier nicht verraten, der Held wird jedenfalls nicht wie geplant sein Studium antreten, sondern zur Armee gehen, wo ihm sein Schulfreund Peter Morrison sagt: „Du hast dich heute Abend als der gezeigt, der du bist. Ein schlauer, oberflächlicher, bezaubernder Kerl, der aus Selbstmitleid flennt, weil er eine Lüge erzählt hat und es rausgekommen ist.“ Bezaubernd heißt: ein Schönling, doch was hilft es? Darin erinnert Fielding Gray an Dorian Gray (das Buch ist voller Anspielungen auf Oscar Wildes Roman). Weil aber die Lüge nicht die einzige in dem Roman ist, und weil zu den Lügen die Intrigen der Schulkameraden, der falschen Freunde der Familie und sogar der eigenen Mutter dazukommen, kann man sagen: Natürlich entwirft Simon Raven über den Coming-of-Age-Roman hinaus ein scharfes Sittenbild der besseren britischen Gesellschaft am Ende des Zweiten Weltkriegs.

Warum macht diese Art von Romanen heute noch süchtig? Nun, eine Antwort ist, weil es ein schönes Lesevergnügen ist, wie hier von der frühen Verkommenheit einer späteren Elite erzählt wird; da ist zum Beispiel Fieldings Rivale Somerset Lloyd-James, der schon in der Privatschule weiß, wie er die Fäden des Erfolgs trotz durchschnittlicher Anlagen so knüpft, dass sie nicht reißen können, und sich mit kalter Erpressung zum Schulkapitän machen lässt; man liest gerne im Nachwort, dass dieser Somerset Lloyd-James in den weiteren Romanen des Zyklus eine wichtige Rolle spielt. Wo sich dagegen die Moral regt, so scheint sie nur durch starke christliche Filter zu existieren, sprich: Der schuldig gewordene Amoralist Fielding kann nur durch Buße bestehen, und man darf annehmen, dass die Hauptbuße dann im Schreiben liegen wird – Almosen fürs Vergessen.

Psychologischer Scharfsinn

Gibt es denn gar keinen, der anders tickt? Doch schon: der Schulvorsteher, der nach der Maxime „Nichts Menschliches ist mir fremd“ handelt und Fielding helfen will (vermutlich liebt er ihn insgeheim). Dieser Schulvorsteher warnt Fielding auch vor dem Tutor Robert Constable. Der sei zwar ein „überzeugter und fortschrittlicher Linker“, der für sexuelle und intellektuelle Freiheit eintrete und es als seine Pflicht sehe, „Ihre Art von Verhalten zu tolerieren“, das gelänge Constable allerdings umso besser, je peinigender der Umgang mit der Sache sei. „Lassen Sie sich bloß nie anmerken, dass Sie sich hier einfach vergnügt haben.“

Zu guter Letzt ist es auch ein unbestechlicher psychologischer Scharfsinn, den Simon Raven mit Anthony Powell teilt und den Leser umso mehr packt, als er ihn in der heutigen Literatur oft schmerzlich vermisst.

Info

Almosen fürs Vergessen, Fielding Gray Simon Raven Sabine Franke (Übers.), Elfenbein Verlag 2020, 264 S. 22 €

Langgliedrige Figuren

Die Bilder dieser Ausgabe stammen vom Illustratoren-Duo ZEBU, das sich 2015 in Berlin gründete. Die beiden Künstler*innen sind gebürtige Berliner, sie lernten sich in der Graffiti- und Urban-Art-Szene kennen. Lynn Lehmann studierte an der Kunsthochschule Weißensee, Dennis Gärtner an der Universität der Künste. Mehr Info: www.z-e-b-u.com

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

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