Signale der Vernunft

Hörfunk Am 13. Februar ist „Welttag des Radios“. Es ist das letzte Medium, das unser Gemeinwesen zusammenhält
Ausgabe 07/2020

Manchmal sind es die kleinen Dinge, die von den großen Veränderungen zeugen. Am 1. Februar verstummten die Staumeldungen im Deutschlandfunk. Eine Umfrage hatte ergeben, dass zwei Drittel der Hörer diese Meldungen für entbehrlich halten, was sie in einem rein informationspragmatischen Zusammenhang wohl auch sind.

Allerdings, darauf haben Hans Zippert in der FAZ und Nils Markwardt bei Zeit online hingewiesen, ist es ein großes Missverständnis, diese Staumeldungen auf ihren Nutzen für Automobilisten zu reduzieren. Vielmehr brachten sie eine unbeabsichtigte Poesie hervor, wie es so nur das Radio vermag. Mehr noch, Orte wie Krefeld-Oppum, Sulzemoos, Wittstock/Dosse und wie sie alle heißen, bildeten, in den Worten Markwardts, eine „höhere Lektion in Regionalkunde“, oder, um mit Zippert noch eine Schippe draufzulegen: Sie waren „Bestandteile eines imaginären Deutschlands“, gewiss eine „zähfließende Heimat im Stillstand“, aber eben doch so was wie Heimat.

Ich bin ein DLF-Hörer

Was für den Staumelder im Kleinen gilt, gilt für das Radiohören im Allgemeinen. Es gibt dabei eine Ebene, deren Sinn sich nicht in einem informationspragmatischen Zusammenhang erschließt. Klar, die Tendenz geht weg vom Hören in Echtzeit, hin zur Nutzung eines breiten Angebots an Beiträgen. Das, was mal Radio war, wird dann zu einer gigantischen Mediathek, die irgendwo in einer Nische noch ein festes Programm fährt – genau diesen Eindruck vermittelt die Homepage des DLF ja schon heute, wo der „Live“-Button erst mal gesucht werden muss.

Und nichts gegen Mediathekenbenutzer – wer wäre es nicht selbst? –, aber sie allein bilden keine Gemeinschaft in dem Sinn, wie sie fürs Radiohören im starken Sinn prägend sind. Es ist eine Gemeinschaft, die sich über zahllose Rituale bildet, auch wenn sie, anders als andere alltagsreligiöse Zusammenschlüsse, kaum von sich selbst weiß. Dass unser Nachbar zur Rechten in der Küche ein Radiohörer ist, weiß ich, aber schon von dem unten könnte ich es nicht sagen. Ich frage ihn aber auch nicht.

Dass die Rituale beim Radiohören besonders viele und besonders unreflektiert sind, liegt daran, dass es sich um eine Aktivität handelt, bei der man meistens auch noch anderes tut. Das fängt am Morgen an, wenn einige von uns immer noch durch den Radiowecker in den komplizierten Prozess des Erwachens treten, und es endet für passionierte Hörer des Deutschlandfunks wenigstens in der Theorie mit dem langsamen Einschlafen um 23.55 Uhr zu National- und Europahymne. Das Abspielen dieser Hymnen fänden vermutlich viele Hörer unerträglich pathetisch, folgte ihm nicht der vorsorgliche Hinweis, dass man sich eine solche Gefühlserhebung nur kurze Zeit erlauben kann: „Um null Uhr folgen dann die Nachrichten.“

Ein vergleichbares republikanisches Pathos fand man lange Zeit auch in dem Satz „Hier ist der Deutschlandfunk“, mit dem die Nachrichten nicht einfach nur anmoderiert wurden, vielmehr markierte er selbstbewusst eine Präsenz, ähnlich dem „Hier regiert der FCB“, das man aus Fußballstadien kennt. Das Herrschaftszeichen des Radios ließ man sich indessen gerne gefallen, denn es folgten ja nicht Schmähgesänge auf den Gegner, sondern seriöse Nachrichten und danach ein vertiefendes Begleitprogramm, das ein bildungsbedürftiges Gemeinwesen nun einmal braucht (und das der ungenannte Gegner, das kommerzielle Radio, nicht liefert). Heute werden die Nachrichten durch einen Jingle eingeleitet, der bloß noch den Namen „Deutschlandfunk“ spricht, aus kulturpessimistischer Sicht: der Anfang vom Ende.

Im Deutschlandfunk gibt es diese Nachrichten alle halbe Stunde, egal was passiert, dazwischen Vertiefungen in alle Richtungen. Diese Formate strukturieren den Tag in einer immer gleichen Weise, und es ist eine der Pointen des Deutschlandfunks, dass er den Tag seiner Hörer mit dem Tag, den die Welt zu bestehen hat, und seinem Programm in eins setzt. „Welttag“-Radio eben. Ein solches Radio darf man getrost mythisch nennen, umso mehr, als es die für einen Mythos notwendige Totalität durch eine Sendung erzeugt, die den einzig möglichen Namen trägt: Das war der Tag.

Das war der Tag rundet den Tag rekapitulierend ab und kann täglich ab 23.10 Uhr gehört werden, an seinem Ende steht eine Presseschau, die „in die Zeitungen von morgen blickt“ und so nicht zuletzt einen süßen Informationsvorsprung gegenüber den reinen Lesern von Zeitungen verspricht, auch als Entschädigung dafür, dass man so lange durchgehalten hat oder einfach nicht einschlafen kann. Aber das sind Belohnungen, die für den, der keine Zeitung mehr liest, keinen Wert haben. Da hilft es auch nichts, dass es diese Presseschau natürlich längst auch in der Mediathek gibt.

Zwar mag es Leser geben, die wissen wollen, wie man vor fünf Tagen den nächsten Tag informationsmäßig einläutete, aber allein auf der Existenz von Schrullen wird man ein mythisches Radio nicht bauen können. Die Zukunft der Presseschau liegt auch nicht darin, dass man sie den neuen Hörergewohnheiten anpasst, sondern darin, dass man sie – wie die Staumeldungen – irgendwann einmal halt doch abschafft.

Dass es sie noch gibt, hat vielleicht etwas damit zu tun, dass man intuitiv ahnt, wie viel auf dem Spiel steht. Nämlich keineswegs nur ein paar liebenswerte Verschrobenheiten, sondern ein essenzieller Beitrag zu einem halbwegs noch vernünftigen Gemeinwesen. Ist der Deutschlandfunk nicht eben genau jenes zivilisierende, Milieus übergreifende Medium, dessen Fehlen man an anderen Beispielen beklagt (früher die Verblödung durch die Bild-Zeitung und heute die Regression durch die sozialen Netzwerke)?

Hier zwei Argumente, die diese These stärken. Das eine subjektiv: Fast alle vernünftigen und klugen Menschen, die ich kenne, hören, soweit bekannt, Deutschlandfunk respektive Deutschlandfunk Kultur. Dafür, dass mein subjektiver Eindruck eigentlich gar nicht falsch sein kann, sprechen die imposanten objektiven Zahlen: Rund 37 Millionen Hörerinnen und Hörer schalten werktäglich mindestens einen öffentlich-rechtlichen Radiosender ein. Das entspricht einem Anteil von 52,5 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung ab 14 Jahren. Den Deutschlandfunk schalten von Montag bis Freitag immerhin zwei Millionen Hörer ein. Die Zahlen sind von 2019.

Die Deutschlandfunk-Hörer sind also eine Macht. Sie tragen zum Zusammenhalt einer zerfallenden Gesellschaft entscheidend bei, denn verbunden sind ihre Hörer eben nicht nur durch partielle Interessen (Krimis, Dopingprobleme im Sport, Ungerechtigkeiten im Nahen Osten, Raumfahrt etc.), sondern durch die Partizipation an einem Mythos. Diese Macht ist diskret und den Programmverantwortlichen vermutlich schwer zu vermitteln, da die ja vorrangig Sorge haben, den Medienwandel zu verpassen („Wir brauchen noch mehr Podcasts!“), aber selbst wenn sie vermittelbar wäre, folgte daraus vermutlich nichts, denn das Radio verkauft sich im Konkurrenzkampf der Medien krass unter Wert, was auch damit zusammenhängt, dass Konkurrenzmedien wie die Zeitungen es tunlichst kleinschreiben.

Küche putzen und lauschen

Nun sind Rituale das eine, aber natürlich vermittelt das Radio auch eine Weltsicht. Und hier steht neben ARD und ZDF vermehrt der Deutschlandfunk unter Beobachtung, denn die „Zwangsgebühren“ zahlt man ja auch für ihn. So machte die NZZ vor ein paar Wochen einen Selbstversuch, hörte zwei Tage Deutschlandfunk durch und kam zu dem Schluss, dass man heute von einem „Grünfunk“ sprechen könne, wo früher die Rede vom „Rotfunk“ war. Meint: Umweltthemen finden große Resonanz, innere Sicherheit aber zum Beispiel nicht, und wenn, dann wird eher der kritische Polizeibeamte gefragt, der sich um rechtsradikale Tendenzen unter seinen Kollegen sorgt, als dass Integrationsprobleme thematisiert werden. Dieser Eindruck täuscht natürlich nicht und ist wohl weniger einer großen Absicht geschuldet als vielmehr die Folge von Blasenbildungen, die man relativ leicht korrigieren könnte und sollte.

Anspruchsvoller ist es, als Radio im Medienwandel zu bestehen und ihm eben ein Stück weit aktiv zu trotzen. Man müsste dann seine Hörer bewusst dazu animieren, sich ihren Tag nach dem Programm zu strukturieren. Ich kann nur sagen: Wie angenehm wird zum Beispiel das Kücheputzen am Samstagvormittag, wenn man dazu Gesichter Europas hören kann.

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

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