Vorsicht, Tiefe!

Hegelplatz 1 Michael Angele erträgt den Sonntagabend vor dem Fernseher nicht mehr
Ausgabe 49/2018
Eigentlich könnten Talkshows interessant sein. Doch sie brechen immer ab, wenn es spannend wird
Eigentlich könnten Talkshows interessant sein. Doch sie brechen immer ab, wenn es spannend wird

Foto: Andreas Rentz/Getty Images

Meine Abende mit Anne Will sind schon eine Weile her. Lange fürchtete ich, etwas zu verpassen, wenn ich ihre Sendung nicht schaue. Von dieser Furcht lebt die Sendung. Nun bin ich frei davon. Ich weiß nicht, ob ich in meiner Abkehr repräsentativ bin, einen gewissen Druck, die Leute bei der Stange zu halten, scheint es zu geben. Das wurde mir klar, als ich an diesem Sonntagabend mal wieder eingeschaltet hatte. Diskutiert wurde über den „Krim-Konflikt“. Ich fand die Diskussion interessant. Das Niveau war recht hoch, der Wille zur Differenzierung erkennbar. Wer an der Krise um die freie Durchfahrt zum Asowschen Meer nun Schuld hat, die Russen oder die Ukrainer, das wusste mit einer Ausnahme keiner so genau zu sagen, nicht Frau Kramp-Karrenbauer, nicht Frau Barley, erst recht nicht der Herr Bartsch, und von Herrn Münkler wurde man darüber belehrt, dass solche Schuldzuweisungen eh Kindergarten sind. Nur Christoph von Marschall wusste genau, dass die Russen die Bösen sind, aber die Vereinigung, in der er Mitglied ist, heißt ja auch nicht „Brücke über die Straße von Kertsch“, sondern „Atlantik-Brücke“. Alles in allem mehr Presseclub als Show, an der lebhaften Diskussion schien bloß eine keine Freude zu haben: die Moderatorin. Anne Will fühlte sich sichtlich unwohl, obwohl oder vielleicht weil man den Eindruck hatte, dass die Gäste sich auch selbst moderieren könnten.

Ich erinnerte mich nun wieder, warum mir Anne Will unerträglich geworden war. Weil sie immer, wirklich immer dann, wenn eine Diskussion gerade interessant wird, abbricht. „Frag doch nach, du ...!“: Wie oft habe ich ihr das nicht zugerufen? Ihre größte Angst scheint die Vertiefung eines Themas zu sein. „Du darfst den Zuschauern nicht zu viel zumuten“, schwebt als ungeschriebenes (vielleicht sogar irgendwo geschriebenes) Gebot über der Sendung. Ihre Methode ist die des Umbiegens: Statt nachzufragen, kommt sie auf die Parteipolitik und von der auf einen anwesenden Kandidaten und von diesem auf die „harte, unbestechliche Frage“, die eigentlich ein Befehl des Exekutivkomitees zur Rettung der Polit-Talkshow im Ersten ist. An diesem Sonntag lautete der in höchster Not ausgesprochene Frage-Befehl an Frau Kramp-Karrenbauer: „Sie könnten doch eine Haltung haben! Dafür wollen Sie doch gewählt werden, wahrscheinlich.“ Es ging um Nord Stream 2 und Frau Kramp-Karrenbauers Weigerung, eine Antwort auf die Frage zu geben, ob sie aus dem Projekt aussteigen will oder nicht. Dass Kramp-Karrenbauer gerade Haltung gezeigt hatte, indem sie sagte, sie wolle nicht etwas versprechen, was sie nicht halten könne, kann eine Moderatorin wie Anne Will allenfalls abstrakt gut finden, praktisch gibt es für ihre Sendung rein gar nichts her.

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

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