„Prominentenblockade“ in Mutlanger Heide will Stationierung von US-Raketen verhindern
Zeitgeschichte 1983 Die Sitzblockaden von einst erinnern an heutige Fahrbahn-Blockaden der „Letzten Generation“. Auch wenn es damals nicht um Ökologie ging, sondern die Aufrüstungsspirale im Kalten Krieg
Ein Prominenter pro Bezugsgruppe, hier: Heinrich Böll
Foto: Harry Melchert/dpa
In der Mutlanger Heide – 30 Kilometer östlich von Stuttgart – begann am 1. September 1983 eine Sitzblockade, an die sich heute zu erinnern auch wegen der Fahrbahn-Blockaden der Gruppe Letzte Generation naheliegt. Auch wenn es damals nicht um Ökologie ging, sondern um die Aufrüstungsspirale im Kalten Krieg.
Der sogenannte Doppelbeschluss, den die NATO am 12. Dezember 1979 gefasst hatte, forderte einerseits die sowjetische Führung zu Verhandlungen auf und sah andererseits vor, atomar bestückte Pershing-II-Raketen in Westdeutschland zu stationieren, die in wenigen Minuten Moskau erreichen konnten. Es war daher denkbar, dass die Sowjetunion versuchen würde, die neuen feindlichen Waffen in einem Präventivschlag auszuschalten. So sah es die beispiell
beispiellos breite westdeutsche Friedensbewegung, die sich nach 1979 herausbildete. Die NATO hingegen setzte darauf, den Gegner im Osten mit der Stationierung zur Rücknahme seiner eigenen letzten Raketen-Modernisierung, der SS-20, zwingen zu können. Da Deutschland im Kriegsfall das zentrale Schlachtfeld sein würde, führte der Doppelbeschluss zu einer so starken Mobilisierung derer, die in ihm ein Hasardspiel mit dem Feuer sahen, dass sich sogar die Regierungspartei SPD spaltete.Dies trug maßgeblich zum Ende der Kanzlerschaft des Sozialdemokraten Helmut Schmidt und zum Einzug der neuen Partei Die Grünen in den Bundestag bei. Doch so sehr auch die Protestwelle anschwoll, es gelang ihr nicht, die führenden westdeutschen Politiker von ihrem hochriskanten NATO-Kurs abzubringen. Deshalb ging die Friedensbewegung zu Aktionen zivilen Ungehorsams über, von denen Mutlangen die größte Ausstrahlungskraft hatte.Den Nobelpreisträger von der Straße tragenBlockadeaktionen vor Militärstützpunkten der US-Armee hatte es schon vorher gegeben, und es folgten noch viele. Mutlangen war deshalb besonders wichtig, weil bekannt wurde, dass hier 36 Pershing-II-Raketen stationiert werden sollten. Nach einer Blockade in Großengstingen im Sommer 1982 bildete sich eine Organisation aus „gewaltfreien Bezugsgruppen“ und einem Sprecherrat, die im August 1983 ein Friedenscamp in Mutlangen durchführte, um vor allem dort eine Sitzblockade zu planen. Klaus Vack, damals Sekretär des Komitees für Grundrechte und Demokratie, steuerte die Idee bei, dass sich Prominente beteiligen sollten. Die Bezugsgruppen waren nicht gleich einverstanden, denn sie wollten, dass alle Blockadeteilnehmer zuvor ein Training absolvierten und dafür in sie eintraten. Man einigte sich schließlich, die Prominenten auf die Gruppen zu verteilen: 150 Personen, darunter Heinrich Böll und Dorothee Sölle, Erhard Eppler und Oskar Lafontaine, Helmut Gollwitzer, Günter Grass, Walter Jens, Robert Jungk und Petra Kelly.Wegen dieser Beteiligung wurde die dreitägige „Prominentenblockade“, wie sie bald genannt wurde, vor den Einfahrtstoren zum US-Airfield weltbekannt. Nicht zuletzt deshalb sah man davon ab, sie später strafrechtlich zu verfolgen oder auch nur aktuell zu räumen. Roman Herzog (CDU), der spätere Bundespräsident, war damals Baden-Württembergs Innenminister; er sagte: „Ich werde der Weltpresse doch nicht das Schauspiel bieten, den Nobelpreisträger Böll von deutschen Polizisten von der Straße tragen zu lassen.“ Man glaubte die Blockade auch deshalb hinnehmen zu können, weil der Stützpunkt aktuell leer war. Denn die Pershing-IA-Raketen, die man dort gelagert hatte, waren alle schon abgezogen worden. Die politische Führung ließ sich ohnehin nicht beeindrucken. Ungeachtet der Proteste beschloss der Bundestag am 22. November 1983 die Stationierung. Die Teilnehmer vieler Blockaden, die nach dem Beschluss noch folgten – in Mutlangen und anderswo –, fanden sich dann vor Gericht wieder und wurden, wenn auch milde, bestraft. Zum Beispiel verurteilte das Amtsgericht Schwäbisch Gmünd zwei Frauen zu einmal 20, einmal 25 Tagessätzen von je 20 DM.Auch das ließen die Betroffenen nicht auf sich sitzen, sondern klagten vor dem Bundesverfassungsgericht. Wie dieses in seiner Entscheidung vom 11. November 1986 argumentierte, ist aus heutiger Sicht besonders interessant. Während sich die Beschwerdeführer auf die Gewaltfreiheit ihrer Aktionen beriefen, hatten die Gerichte der Vorinstanzen letztlich alle gleich entschieden: Für sie war eine Sitzblockade Nötigung mit dem Mittel der Gewalt nach Paragraf 240 des Strafgesetzbuches. Dass die Sache so eindeutig nicht war, ging freilich schon aus der Teilnahme auch vieler Richter und Staatsanwälte an der Prominentenblockade hervor. Und so machte es sich das Verfassungsgericht nicht leicht. Es stellte fest, dass der Gewaltbegriff von den Gerichten immer mehr aufgeweicht worden war, so dass zuletzt schon „psychische Gewalt“ zur Verurteilung ausreichte. Dazu, die Aufweichung zurückzuweisen, konnten sich die Verfassungsrichter zwar noch nicht durchringen – das geschah erst 1995 in einer weiteren Sitzblockaden-Entscheidung –, aber dafür problematisierten sie einen anderen Aspekt des Gewaltbegriffs.Ein einziger Erfolg der BeschwerdeführerDie Form der Entscheidung von 1986 war bemerkenswert: Die Hälfte des Verfassungsgerichts problematisierte so sehr, dass sie zu dem Schluss kam, den Beschwerdeführern sei recht zu geben – die andere Hälfte folgte dem offenbar nur deshalb nicht, weil sie meinte, es sei Sache der Vorinstanzen, sich dem Problem zu stellen. Es wurde deshalb nur einer von vielen Beschwerden recht gegeben. Und dies mit dem rein formalen Argument, da habe sich eine Vorinstanz nicht einmal Gedanken zum Problem gemacht. Weil bei Stimmengleichheit des Gerichts eine Beschwerde als abgewiesen gilt, blieb dies der einzige Erfolg der Beschwerdeführer. Man muss wohl sagen, dass das Verfassungsgericht klug gehandelt hatte: Statt sich gegen alle Vorinstanzen zu stellen, war es in eine Debatte mit ihnen eingetreten. Übrigens haben auch die Verfassungsrichter untereinander, wie kürzlich der ausscheidende Richter Peter Michael Huber in seiner Abschiedsrede hervorhob, immer auf möglichst viel Konsens bei aller Verschiedenheit der Auffassungen geachtet. Wenn man an die Verhältnisse im Supreme Court der Vereinigten Staaten denkt, kann das ja nur begrüßt werden.Worin aber bestand das Problem? Darin, dass im Paragraf 240 des Strafgesetzbuchs zwar von Gewalt die Rede ist, sie aber allein – wie immer man sie definiert, ob mehr psychisch oder mehr körperlich – nicht den Ausschlag gibt; wir lesen vielmehr im Absatz 2: „Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.“ Interessant ist nebenbei, dass sich der Gesetzgeber erst 1953 für die Verwendung des Ausdrucks „verwerflich“ entschieden hatte. Bis dahin war stattdessen vom „gesunden Volksempfinden“ die Rede gewesen. Wie auch immer: Konnte denn der Protest gegen eine mögliche atomare Auslöschung Deutschlands als verwerflich gelten? Die Vorinstanzen hatten gemeint, die Gewalt der Blockierer, die sie als gegeben ansahen, sei als solche schon das Verwerfliche. Das war aber, wie im Entscheid des Verfassungsgerichts zu lesen, reichlich absurd, denn wenn es so wäre, hätte sich das Gesetzbuch den Absatz 2 ja sparen können. Gleichwohl wollte, wie gesagt, die Hälfte des Gerichts das Urteil darüber, was verwerflich war und was nicht, den Vorinstanzen überlassen.Der Gewaltbegriff wurde in späteren Jahren noch dahin weiterentwickelt, dass er nun auf die Blockaden der Letzten Generation eindeutig zutrifft. Es gilt nämlich inzwischen, dass zwar auf die ersten Autos, die sich mit angeklebten Menschen konfrontiert sehen, keine Gewalt ausgeübt werde, weil keine materiellen Gewaltmittel im Spiel sind. Diese ersten Autos seien aber, so heißt es, ihrerseits die Gewaltmittel, unter deren Zwang die nachfolgenden Autos stoppen müssten, beginnend mit ihrer „zweiten Reihe“. Das mag sich so verhalten! Aber wer diese Gewalt verwerflich nennen wollte, wäre nicht bei Verstand.
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