Bundesverkehrsminister Volker Wissing ist gerade der Richtige, die Streikvorbereitung der Eisenbahnergewerkschaft EVG zu kritisieren. „Viele Menschen“, sagt der FDP-Mann in der Bild-Zeitung, „haben sich diese Sommerferien ganz bewusst für das klimafreundliche Reisen mit der Bahn entschieden“, auch stehe die Bahn doch eh schon vor so vielen „Herausforderungen“. Als ob die EVG das nicht wüsste! Sie kämpft nicht nur für klimafreundliche Reisen, sondern überhaupt für die Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene. Ein Güterzug ersetzt 52 Lkw, rief der EVG-Vorsitzende Martin Burkert erst kürzlich während eines parlamentarischen Frühstücks in Erinnerung. Er prangert an, dass Wissing sich in der Bundesregieru
Bevorstehender Streik der EVG: Die Bahn macht fossil
Mobilität Die EVG könnte bald unbestfristet streiken, jeder Dritte erwägt deshalb die Umstellung auf ein anderes Verkehrsmittel. Schuld daran ist der DB-Vorstand, der Geld für Boni-Vergütungen hat – aber nicht für höhere Gehälter

Ob dieser Zug wohl zu den 65 Prozent gehört, die 2022 pünktlich waren?
Foto: Jan Huebner / Imago
undesregierung mit einer Planungsbeschleunigung für 148 Autobahn-Ausbauprojekte durchsetzen konnte: Neben Planungs- und Baukapazitäten würden dadurch 30 Milliarden Euro, die besser in die Schiene investiert wären, für 15 bis 20 Jahre gebunden. Und man weiß ja, wie Wissing dafür argumentiert hat: Der Lkw-Verkehr werde zunehmen, darauf müsse man vorbereitet sein! „Die Mobilitätswende“, sagte bei dem Frühstück die Fachpolitikerin Dorothee Martin von der SPD, „geht nur mit einer starken Schiene und mit einer starken Gewerkschaft, die für gute Löhne und gute Arbeitsbedingungen bei den Bahnen sorgt.“ Aber Olaf Scholz, der SPD-Kanzler, hat Wissing gewähren lassen.Da bewegt sich auch die Kritik des Fahrgastverbands Pro Bahn auf der falschen Spur: Autofahrer würden sich nun bestätigt fühlen, heißt es von dort. Eine Umfrage scheint dem Verband recht zu geben: Jeder Dritte, der mit der Bahn in den Urlaub fahren wollte, erwägt jetzt den Umstieg auf ein anderes Verkehrsmittel. Ja, aber warum hat sich der Bahnvorstand dann nicht längst mit der Gewerkschaft geeinigt? Sie verhandeln doch schon seit Ende Februar. Für die Mobilitätswende kämpft man nicht dadurch, dass man sich um guten Lohn prellen lässt, nur weil der Bahnvorstand die Sommerferien abwartet und mit ihnen auftrumpft. Dass eine Einigung möglich gewesen wäre, zeigt der Tarifabschluss, den die EVG vorige Woche mit mehreren Privatbahnen erzielt hat: Lohnerhöhungen von 420 Euro in mehreren Stufen, eine Laufzeit von 21 Monaten und eine Inflationsausgleichsprämie von 1.000 bis 1.400 Euro. Dem konnte die Gewerkschaft zustimmen, was auch ihre Kompromissbereitschaft zeigt, denn sie wollte ursprünglich die Prämie nicht, hatte mindestens 650 Euro mehr für alle Beschäftigten und eine Laufzeit von zwölf Monaten gefordert. Die Staatsbahn bietet zweimal 200 Euro Lohnerhöhung und will eine Laufzeit von 27 Monaten.Sie hat doch 30 Milliarden Schulden, und die Schulden nehmen zu – um über fünf Milliarden allein im Jahr 2020. Ist das nicht ein Grund für die Gewerkschaft, sich zu mäßigen? Aber ein Grund für die Bahnmanager, sich keine Boni zu genehmigen, ist es nicht. Ende April wurden 3.800 Führungskräften und weiteren Beschäftigten zusammen mehr als drei Millionen Euro ausgezahlt. Die acht Mitglieder des Vorstands hatten zusammen mehr als neun Millionen beansprucht, da legten aber Teile des Aufsichtsrats Einspruch ein, weil der Konzern wegen der Krise der Strompreise staatliche Unterstützung erhält unter der Bedingung, dass keine Boni ausgezahlt werden. 2020 und 2021 hatte der Vorstand wegen Corona auf sie verzichtet, für 2022 standen sie wieder im Geschäftsbericht. Aber nun heißt es, die Sache werde noch geprüft.Wer soll die Krisen ausbaden?Corona und die Strompreise sind zwei Faktoren, die die Inflation treiben, und diese ist es, die der Gewerkschaft gebietet, sich auf keinen flauen Tarifabschluss einzulassen. Denn es soll nicht so sein, dass die Beschäftigten eine Reallohneinbuße hinnehmen, während die Manager sich schadlos halten. Corona ist deshalb ein Faktor, weil das Geld, das die privaten Haushalte während des Lockdowns nicht ausgaben, nun geballt in Umlauf gebracht wird, eben etwa für Urlaubsreisen. Wer schon welchen gemacht hat, kann sich ein Bild machen, wie sich da alles verteuert hat. Haben denn Bahnbeschäftigte Urlaubsreisen nur zu ermöglichen, sollen sie deshalb nicht streiken dürfen? Nein, sie machen auch selbst welche, und nicht nur die Fahrgäste, sondern auch sie müssen die höheren Preise schultern können. Hinter dem Faktor Strompreise steht unter anderem der Ukraine-Krieg. Weil niemand voraussagen kann, wie er sich noch entwickelt und wie lange er noch dauern wird, kann auch niemand versichern, dass es mit der Inflation bald vorbei sein wird. Sich auf eine Tariflaufzeit von 27 Monaten einzulassen, da wäre die Gewerkschaft wahrlich schlecht beraten.Zumal noch weitere Faktoren dazukommen, so die Staatsschulden in der EU, zum Teil noch als Folge der Finanzkrise von 2008 – in Deutschland 68 Prozent der Wirtschaftsleistung, in Frankreich 113 Prozent, in Italien 151 Prozent, in Griechenland 192 Prozent. Das sind Schulden, die laufend „bedient“ werden müssen. Dann die nach der Finanzkrise lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. Und heute, als Folge erst der Corona-Krise, dann auch des Ukraine-Kriegs und anderer internationaler Spannungen, eine Deglobalisierung, die zum Ausfall internationaler Lieferketten und deshalb zu vermehrter Produktion in den hoch entwickelten Ländern führt, wo sie viel teurer bezahlt werden muss. In den Medien sieht es oft so aus, als nehme die Inflation schon ab und sei deshalb kein so großes Problem mehr. In Deutschland war die Inflationsrate von 3,21 Prozent in 2021 auf 8,67 Prozent in 2022 gestiegen, für 2023 werden 5,1 Prozent prognostiziert. Darin aber eine nennenswerte Erleichterung zu sehen, wäre Selbsttäuschung, denn die Inflation eines Jahres wird im Vergleich mit dem Vorjahr ausgewiesen, die von 2023 erscheint also deshalb niedriger, weil sie den hohen Sockel von 2022 voraussetzt. Viele Krisen kommen zusammen, sollen es die Beschäftigten ausbaden?Sind sie daran schuld, dass die Pünktlichkeit der Bahnhalte in 2022 bei nur 65,2 Prozent lag? Die Pünktlichkeit gehört zu den Kriterien der Berechnung der Manager-Boni, wurde aber diesmal mit null Prozent gewichtet, während etwa das Erreichen finanzieller Ziele zu Buche schlug. Finanzielle Ziele wurden erreicht, aber für die angemessene Lohnerhöhung soll nicht genug Geld da sein. Dabei haben doch alle, die manchmal Bahn fahren, den Stress der Beschäftigten gesehen. Selbst zwischen Berlin und Hamburg, wo es einen 30-Minuten-Takt mit ICE oder EC gibt, oder immer geben müsste, können ICEs so überfüllt sein, dass Fahrgäste kaum ihren bezahlten Sitzplatz finden. Ihren Frust laden sie dann auf den Zugbegleitern ab, die eine 39-Stunden-Woche ableisten, und man kann beobachten, wie es manche nicht mehr aushalten, während andere, besonders Frauen, die Fahrgäste zu befrieden in der Lage sind. Ihre Arbeit ist nicht nur sinnvoll, für sie selbst wie für die Gesellschaft, sondern auch schwer.Und apropos Gesellschaft: Seit diesem Jahr vergütet die Bahn Reisebüros nicht mehr die Vermittlung von Bahnfahrten, sodass diese nur noch Flüge vermitteln. Das ist wohl einer der Gründe, weshalb finanzielle Ziele erreicht wurden. Aber es war sicher nicht die Idee der Beschäftigten.Die Öffentlichkeit sollte den Kampf der Arbeiterinnen für die Verkehrswende unterstützen und nicht deshalb allein, aber auch deshalb ihre berechtigten Lohnforderungen. Sie könnte einmal zur Kenntnis nehmen, dass die Abwendung der ökologischen Katastrophe nicht etwa an der Arbeiterinnenklasse scheitert. Der Soziologe Klaus Dörre hat es kürzlich im Interview verallgemeinert: Das VW-Management brüstet sich mit der Umstellung auf Elektroautos, aber die Beschäftigten rechnen vor, dass ein E-Golf, bevor er auf der Straße steht, bis zu 20 Tonnen CO₂ emittiert hat (der Freitag 25/2023). Woraus der Betriebsrat den Schluss zieht, der Verkehr müsse schrumpfen, statt ausgeweitet zu werden, auch nicht durch E-Autos. Aber wenn dann VW-Ingenieure ein E-Bike entwickeln, ist es dem VW-Vorstand auch wieder nicht recht: Es müssen schon Autos herauskommen!Parteien, die sich für ökologisch halten, werden so lange scheitern, wie sie sich nicht auf die Arbeiterinnen stützen.