Janine Wissler und Omid Nouripour bei ARD und ZDF: Wenig Vertrauen in Demokratie
Sommerinterviews In der parlamentarischen Sommerpause zeigen ARD und ZDF jeden Sonntag Interviews mit den Parteivorsitzenden. Besonders tiefgründig sind die Gespräche nicht. Trotzdem sind die Sendungen sehenswert
Sozialpolitik hat für sie höchste Priorität: Linke-Vorsitzende Janine Wissler auf dem Weg zum ARD-Sommerinterview
Foto: Paul Zinken/picture alliance/dpa
In den „Sommerinterviews“ von ARD und ZDF werden die Parteivorsitzenden rundum befragt zu allen Themen, die auf der politischen Agenda stehen, so dass keines allzu sehr vertieft wird und sie den Leiter:innen der Hauptstadtstudios – Tina Hassel für die ARD, Theo Koll fürs ZDF – Antworten geben, die wir aus der Medienberichterstattung schon kennen.
Die Sendungen sind trotzdem sehenswert, weil man sich, während das so an einem vorbeiläuft, noch mal Gedanken macht über den Politikstil der Parteien, die von deren Vorsitzenden vertreten werden. Es ist, als wenn man im Konzertsaal sitzt und eine Komposition hört, und so hört, als hörte man sie zum ersten Mal, und sich in Ruhe überlegt, was sie wohl im Ganzen zum Ausdruck bringt.
n man im Konzertsaal sitzt und eine Komposition hört, und so hört, als hörte man sie zum ersten Mal, und sich in Ruhe überlegt, was sie wohl im Ganzen zum Ausdruck bringt. Außerdem ist der unmittelbare Vergleich interessant, da jeden Sonntag zwei Vorsitzende direkt hintereinander antreten, zuerst um 18 Uhr im Ersten und danach 19.10 Uhr im ZDF. Vergangenen Sonntag waren es Janine Wissler für die Linke (ARD) und Omid Nouripour für die Grünen (ZDF). Diese Parteien sind immer noch recht jung verglichen mit SPD, Union und FDP, von denen man schon lange den Eindruck hat, dass sie vor allem den Status quo verwalten. Was setzen ihnen die später in den Bundestag Eingezogene entgegen?Bei der Linken stellt sich aktuell eher die Frage, wie sie es verhindern, aus dem Bundestag bald wieder rauszufliegen. Sahra Wagenknechts mutmaßlicher Parteigründungsplan, von dem die Existenz der Linken massiv bedroht wird, war natürlich ein Hauptthema im Gespräch mit Wissler, die darauf einging wie auf fast alles: mit der sozialpolitischen Ansage. In diesem Land gibt es soziale Probleme, sagte sie, und statt sich da zu engagieren, befasst sich Wagenknecht mit einer Parteigründung.Sehr überzeugend war das nicht, denn Wagenknecht denkt ja deshalb über eine Parteigründung nach, weil sie meint, die vorhandene Linkspartei befasse sich falsch und zu wenig mit den sozialen Problemen. Wissler weiß das natürlich, deshalb ging sie auch auf den Konflikt ein: Ihre Partei sei für Soziales und gegen Rassismus. Das heißt dafür, Sozialpolitik nicht rassistisch zu buchstabieren, Immigrant:innen in sie einzubeziehen statt gegen biodeutsche Leistungsempfänger:innen auszuspielen. Mit dem Satz „Menschenrechte sind unteilbar“ spielte sie auf den 2018 offen ausgetragenen Streit um die Demo „Unteilbar“ an, die vom Parteivorstand der Linken unterstützt, von Wagenknecht aber abgelehnt worden war.Wissler kontert klasseDas heißt aber, sie sprach es nicht offen aus – warf Wagenknecht keine rassismusaffine Sozialpolitik vor, sondern eben ersatzweise, ihr sei Sozialpolitik weniger wichtig als eine Parteigründung. Zeigt das nicht, dass das Soziale in Gefahr ist, zur Floskel zu werden? Oder wenn nicht zur Floskel, dann zur bloßen Anwendung eines Codes? Hat man denn Lenin 1902 vorgeworfen, statt die Revolution vorzubereiten, spalte er mit seiner Schrift „Was tun?“ die sozialdemokratische Partei? Ich nehme an, die Menschewiki haben es wirklich getan ... Wobei Lenin dem Verdacht, er möchte rassismusaffin sein, gewiss nicht ausgesetzt war.Sozialpolitik überall: Die AfD ist in Ostdeutschland stark, weil eine „Lohnoffensive“ fehlt, sie ist es in Sonneberg, obwohl dort 44 Prozent der Menschen vom Mindestlohn leben, den die AfD ablehnt; wenn die Kommunen sagen, sie können keine Geflüchteten mehr aufnehmen, dann weil sie vom Bund nicht besser finanziert werden, der doch das Sondervermögen für die Bundeswehr stemmte; in der Klimapolitik, wo die Ampel „nichts tut“, hat sie zudem kein Auge für die soziale Ungleichbelastung; in den Schwimmbädern „ist Sozialpolitik die beste Kriminalpolitik“, und dass viele kein Bad in der Nähe haben, ist ein größeres Problem als die Schlägereien; und so weiter. Es ist alles richtig und es ist sehr gut, dass Wissler es ausspricht. Das als Politikstil genommen, fragt man sich aber, wohin es denn führen kann. Sie spricht einerseits Dinge aus, die in den anderen Parteien nicht die Priorität haben, was ein Skandal ist. Andererseits sind diese Dinge, die sie sagt, jedermann bekannt. Sie sagt nichts Neues.Einmal blitzt auf, dass sie konkret kontern kann. Was soll denn an der Kindergrundsicherung so toll sein, wird sie gefragt, wenn die Eltern das Geld dann nicht für die Kinder ausgeben, sondern für eine neue Waschmaschine, weil die alte kaputt ist. Brauchen etwa nur die Eltern Wäsche, antwortet sie, und nicht auch die Kinder. Das war Klasse, im doppelten Wortsinn!Ansonsten aber, sagt sie denn, was man dagegen tun kann, dass Sozialpolitik nicht prioritär ist? Im Vorübergehen, so dass kaum jemand hingehört haben wird, flicht sie ein: Die Ampel tut nichts gegen die Energiekonzerne. Das ist der erkennbare Ansatz der Linken, etwas zu verändern: gegen die Konzerne vorgehen. Deshalb kann sie auch, beim Thema Schlägerei in den Bädern, den Bogen spannen zum Audi-Chef Rupert Stadler, der für den Betrug seiner Firma – Manipulationen zur Umgehung der Grenzwerte für Autoabgase – nach vielen Prozessjahren nun zu eindreiviertel Haftjahren auf Bewährung verurteilt wurde, während die Schläger in den Bädern, wenn es nach dem neuen CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann geht, noch am Abend ihrer Tat dem Haftrichter vorgeführt werden sollen. Auch diesen Vergleich werden wenige verstanden haben, weil die Tat des Herrn Stadler längst nicht mehr so im Gedächtnis ist.Nouripour will nicht über jedes Detail eine VolksabstimmungUnd wie wollen die Grünen verändern? Ihre Priorität ist die Klimapolitik. Sie sitzen mit an den Machthebeln, aber der Wind bläst ihnen ins Gesicht, so dass ihr Vorsitzender Omid Nouripour im ZDF einräumen muss, dass der derzeitige Wahlkampf in Hessen, wo er selbst in einem Frankfurter Wahlkreis kandidiert, vom Streit in der Ampelregierung überschattet wird. Wenn der Moderator ihn erinnert, dass den Grünen in Wahlkämpfen immer wieder vorgehalten werden konnte, sie seien eine „Verbotspartei“, trifft er offenbar einen wunden Punkt – es ist interessant, was Nouripour so nach und nach dazu einfällt. Stehen „die weitgehenden Verbote“ beim Heizungsgesetz für den Politikstil der Grünen überhaupt?Placeholder infobox-1Zuerst sagt Nouripur, es gehe gar nicht um Verbote. „Wenn Sie Heizungen haben, lassen Sie die bitte weiterlaufen!“ Vielleicht war das anfangs nicht so klar, aber „der erste Entwurf ist immer fehlerhaft“. Der Moderator präsentiert nun die geistreiche Warnung des Grünen Ralf Fücks vom Zentrum Liberale Moderne: Freiheit sollte nicht auf Einsicht in die ökologische Notwendigkeit schrumpfen. Darauf Nouripour: Unsere Freiheit schränken wir ein, wenn wir ökologisch nichts tun, das kann man in höchstrichterlichen Urteilen nachlesen.Dann gibt er das Problem zu. „Es geht nicht komplett ohne Ordnungspolitik.“ Aber man mache auch viel über „Anreize“. Will sagen, über Marktpreise. Wer unterstellt freilich noch den Menschen, sie hielten solche Preise für ein Naturereignis, hinter dem kein politischer Wille steckt? Der Moderator erinnert an die kürzliche Äußerung des Bundeskanzlers, jede Klimaschutzpolitik müsse so sein, dass sie in einer Volksabstimmung eine Mehrheit finde. Nouripour: Er sei „nicht sicher“, ob das „für jedes Detail“ eines Gesetzes der richtige Weg ist, aber es sei richtig, dass man „werben“ müsse. Jedenfalls sei die Reihenfolge erst „Umfrage“, dann Handeln falsch, vielmehr müsse erst das Notwendige getan werden. Wenn man „mit Ergebnissen“ überzeuge, gewinne man Mehrheiten. Auch die SPD, in ihrer langen Geschichte, habe immer wieder Themen auf die Agenda gebracht, die nicht mehrheitsfähig waren. Das ist Nouripours Antwort auf jene Äußerung des Kanzlers Olaf Scholz, der ja Sozialdemokrat ist.Sie überzeugt aber nicht, denn Scholz hatte nicht von Umfragen, sondern von Volksabstimmungen gesprochen, und vor allem macht es einen Unterschied, ob man „Themen“ oder gleich „Ergebnisse“ auf die Agenda setzt. Eine bessere Antwort wäre gewesen: Herr Scholz, Sie plädieren doch nur für Als-ob-Volksabstimmungen. Warum denn nicht wirklich welche durchführen, wo es um die unmittelbaren ökonomischen Interessen der Bürger:innen geht? Und natürlich würde es dann nicht darum gehen, über „jedes Detail“ abstimmen zu lassen.Unterschied zwischen Grünen und Linken gar nicht so großWarum stellen sich die Grünen nicht auf den Standpunkt, dass die Bürger:innen selbst die Verantwortung übernehmen müssen dafür, ob es ökologisch vorangeht oder nicht? Stattdessen lassen sie sich für eine Ordnungspolitik schelten, die sie nicht einmal durchsetzen können – als trügen sie die Schuld an den ökologischen Verwerfungen.Aber die Linke macht es nicht besser. Auf den ersten Blick scheint es zwar, sie würde ja nicht den Bürger:innen etwas verbieten wollen, sondern nur „den Konzernen“. Aber wenn sie die Macht hätte, das zu tun, würden sich nicht die Bürger:innen schützend vor die Konzerne stellen? Weil sie vom Konsumismus nicht lassen wollen? (Für Marxist:innen: Der Konsumismus ist ein Mittel der Konzerne, dem tendenziellen Fall der Profitrate entgegenzuwirken.) Muss es nicht prioritär sein, erst mal die Bürger:innen zu überzeugen – das heißt, ihnen zu widersprechen? Wenn man ihnen die Macht gäbe, über die Streitsachen auch selbst zu entscheiden, wäre die Chance größer, dass sie sich widersprechen und überzeugen lassen. Davon, dass sie selbst gegen die Konzerne etwas tun sollten. Wenn sie es tun, kann es der Staat – sonst nicht.Ordnungspolitik gegen die Konzerne, ohne die Bürger:innen wählen zu lassen: hat das nicht auch die DDR versucht? Die Bürger:innen haben sich aber 1990 für den Staat der Konzerne entschieden. Diese Lehre ist bis heute nicht beherzigt.Und ja, kann nicht gesagt werden, dass der Politikstil der Grünen sich von dem der Linken gar nicht so sehr unterscheidet? Man sollte einen Preis ausschreiben für diejenige der beiden Parteien, die sich als erste für mehr Demokratie entscheidet.