Noch ist Zeit

Türkei Härte im Umgang mit Erdoğan ist wichtig. Aber das darf nicht bedeuten, dass Gespräche abgebrochen werden
Demonstranten vor den Büros der Cumhuriyet
Demonstranten vor den Büros der Cumhuriyet

Bild: ADEM ALTAN/AFP/Getty Images

Was in der Türkei abläuft, ist schlimm. Wenn manche sagen, da zeige sich nur, wie viele Spielarten von Demokratie es inzwischen gebe – denn unleugbar kann sich Recep Tayyip Erdoğan zur Zeit auf die Zustimmung einer großen Mehrheit der türkischen Bevölkerung stützen –, dann stimmt das einfach nicht. Schon wenn man das Wort „Demokratie“ übersetzt, sieht man, dass es mehr heißt als Mehrheitsmacht. Denn ein Volk besteht nicht nur aus seiner Mehrheit. In den Federalist Papers, dem grundlegenden Dokument der US-amerikanischen Verfassung, kann man die Voraussetzung des Regierens auf Mehrheitsbasis nachlesen: dass alle gewisse Grundwerte teilen und deshalb unter allen Umständen pfleglich miteinander umgehen. Was der türkische Präsident gegenwärtig betreibt, ist die Abschaffung der Demokratie.

Wer sich das nicht klarmacht, kann auch nicht darüber urteilen, wie ein „realpolitischer“ Umgang mit der entstandenen Situation aussähe. Realpolitik muss sein, sie besteht aber sicher nicht aus hastigen Ad-hoc-Anpassungen. Es reicht also nicht, auf das fragwürdige Flüchtlingsabkommen mit der Türkei zu verweisen. Selbst wenn man es gutheißen könnte: Die EU wird letztlich selbst wissen, dass sie es sich nicht leisten kann, über diesen Hebel von Erdoğan erpresst zu werden. In die Perspektive der NATO möchte man sich noch weniger stellen. Wenn wir es aber könnten, müssten wir auf die „westlichen Werte“ verweisen, für deren Verteidigung sie angeblich kämpft. Wie kann dann eine Türkei, die sich anschickt, antidemokratisch zu werden, NATO-Mitglied bleiben? Weil man sie für Militärstützpunkte braucht? Dann könnte ja genauso gut Saudi-Arabien in die NATO.

Wirkliche Realpolitik muss die langfristigen Entwicklungslinien im Blick haben. Die Türkei war wichtig als Modell eines Staates, der Politik und Religion trennte, obwohl er zur islamischen Welt gehörte. Aus diesem Grund wäre es sinnvoll gewesen, das Land in die EU aufzunehmen, denn dann wäre das Modell nicht nur festgehalten worden, sondern hätte zum Vorbild werden können. Doch als noch Zeit dafür war, haben es konservative Kräfte gerade auch in Deutschland blockiert.

Jetzt ist es erst einmal zu spät. Dennoch darf die Linie nicht aufgegeben werden. Der Schritt des Auswärtigen Amtes, „kritische Geister“ in der Türkei wissen zu lassen, dass sie in Deutschland Asyl beantragen können, ist richtig und müsste verallgemeinert werden. Wenn die Türkei sich von der Demokratie entfernt, sollte Europa umso mehr zum Demokratiemodell (auch) für Muslime werden. Dazu gehört dann auch, dass sich Erdoğan-Anhänger und -Gegner auf deutschem Boden streiten können – im geregelten demokratischen Rahmen. Für AfD-Anhänger mag die Vorstellung ein Graus sein, aber das zeigt nur, dass sie selbst am wenigsten realpolitisch denken. Sie tun so, als ob Europa die Zukunft der islamischen Welt, seines geopolitischen Nachbarn, egal sein kann.

In der Türkei kann Erdoğan sich zwar auf eine Mehrheit stützen, aber trotzdem spricht sich mindestens die Hälfte der Bevölkerung für Meinungs- und Pressefreiheit aus. Das ist ein Widerspruch. Er zeigt, dass die Türkei noch umkehren könnte, wenn sich Europa klug verhielte. Härte im Prinzipiellen dürfte nicht bedeuten, dass Gespräche abgebrochen werden. Sie könnte aber Wirtschaftssanktionen durchaus einschließen. Sanktionen gegen Russland zu verhängen war sinnlos, gegen die Türkei wären sie wirksam.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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