Suche nach dem Glück: Erhöre mein Rufen, Du lieber Gott, den es nicht gibt
Gebet So viele Bomben, Massaker, Katastrophen, Kriege: Wie können wir in diesem Grauen auf Liebe und Erlösung hoffen, die wir in der kommunistischen „Internationale“ noch besangen?
Du lieber Gott! Das hätte ich nicht gedacht, dass ich Dich einmal anrufen würde, nicht telefonisch zwar und auch sonst nicht mündlich, sondern schriftlich. Wie Augustinus in den Bekenntnissen, in denen der römische Kirchenvater nicht nur seinen Weg zu Dir erzählt, sondern auch eine Theorie der Zeit aufstellt – wie sollten wir nicht auch über die Zeit nachdenken, die Jetztzeit, die schrecklichen Massaker, so im Süden Israels durch die Hamas? Die schrecklichen Bombardierungen ganz Gazas? Soll man da nicht Du lieber Gott rufen. Gerade wenn man, wie ich, gar nicht glaubt, dass es Dich gibt. Wo wäre denn, wenn es Dich gäbe, Deine Liebe angesichts der Massaker?
Ich weiß allerdings, dass meine Berufung auf meinen Unglauben gar kein rechter Zu
gar kein rechter Zug im christlichen Sprachspiel ist, denn sogar Augustin scheint zu meinen, es gebe Dich nicht, hat er doch diesen Satz geäußert: „Volo ut sis“, „Ich will, dass Du seist“ – heißt das nicht: „Ich weiß – oder fürchte zumindest, dass Du nicht bist“? Auch von der ganz irdischen Liebe sprechen wir so. Ich will dich, Liebste, nicht bloß vernaschen, nein bleibe, sei immer da, todtraurig werde ich sein, wenn du gehst und nicht wiederkehrst. „Gott ist die Liebe“, steht in der Bibel: Du selbst also, wenn es Dich gäbe, lieber Gott, wärst der Wille, dass es mich gibt und uns alle und überhaupt alles, auch die Natur, statt dass sie vom Kapitalismus vernascht wird, und wärst auch die Durchsetzung dieses Willens. Nur eben, und das haben auch andere gesagt, sogar Dietrich Bonhoeffer, der Dein Blutzeuge war, getötet von den Nazis: „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“Jedes Mal, wenn ein Massaker geschieht, will ich glauben, es sei einzigartig, dabei besteht die ganze Menschheitsgeschichte aus Massakern. Auschwitz war das furchtbarste. Allenfalls der Vielvölkermord an den Indigenen Amerikas nach 1492 grenzt an dieses Grauen, begangen von spanischen Christen. Freilich bedeutet Auschwitz auch, dass die Christen unrecht haben, wenn sie sagen, Christus sei auferstanden und sitze zu Deiner Rechten, und so wäre dann schon, für Christen zumindest, wie für Juden ohnehin, Auschwitz ganz einzigartig. Denn wenn Christus wirklich der Christus war, der jüdische Messias, hätte er für das jüdische Volk gestanden, so werden ja Jesajas Lieder vom Gottesknecht gelesen, und das würde bedeuten, dass Auschwitz seine zweite Kreuzigung war.Soll man sagen, die Auferstehung habe nach Christi Tod nur begonnen, das immerhin, insofern, als seine Jünger sich nicht entmutigen ließen, aber ob sie zum guten Ende kommt, sei ungewiss? Was wieder darauf hinausliefe, dass es Dich ja erst einmal überhaupt geben müsste, damit da einer zu Deiner Rechten soll sitzen können. Es ist wohl gar nicht an dem, bisher jedenfalls nicht, und vielleicht niemals.Warum denn sonst die vielen Massaker? Nicht einmal die Israelis sind unschuldig, wenn man nur an Sabra und Schatila denkt, das schreckliche Massaker an Palästinensern im Libanesischen Bürgerkrieg.Ja, wir leben hier so behütet, dass wir uns bei jedem neuen Massaker einreden möchten, es hätte vorher nie eins gegeben. In seinem Roman Die Ästhetik des Widerstands kommt Peter Weiss zu dem Schluss, dass der Mensch als solcher, oder der Mann zumindest, ein Mörder ist. Das ist immerhin ein Roman, in dem ein Kommunist seinen lebensgefährlichen Kampf gegen die Nazis schildert: Er muss auch von den furchtbaren Verbrechen der Kommunisten zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs sprechen, die auch Stalins Zeit war. Und ich denke auch an das Massaker, das Hemingway in seinem Roman Wem die Stunde schlägt schildert: den Spießrutenlauf der Honoratioren einer spanischen Kleinstadt, veranstaltet von den Antifaschisten, die zuerst noch zögern, sich dann aber in den Mord- und Grausamkeitsrausch hineinsteigern.Peter Weiss erzählt auch von einem Stückeschreiber, der den schwedischen Reichshauptmann Engelbrekt, Anführer eines Bauernaufstands im 15. Jahrhundert, auf die Bühne bringen will. Der Plan wird aufgegeben, denn die Umstände von Engelbrekts Ermordung und wie dann dessen Frau vertrieben, zuvor noch von Knechten vergewaltigt wird, sind dem Schreiber unaushaltbar. Er heißt Bert Brecht.Die Menschen als solche sind grausam, ihre ganze Geschichte ist es, und das ist ein Rätsel. Davon wollen wir erlöst sein. Das Rätsel auflösen. Ob es Dich nun gibt oder nicht, oder allenfalls einmal geben wird, als „Gott ist die Liebe“ oder einfach nur als Liebe statt Grausamkeit – gleichviel! Wenn es Dich geben würde, ein Herr wärst Du jedenfalls nicht, denn es ist offenkundig, dass Du nicht herrschst. Kein Gehorsam, keine Herrschaft: Die Bibel bezeugt es von der ersten bis zur letzten Seite.Das Glück findet sich im AlltagAber auch wenn es Dich nicht gibt, wollen wir erlöst sein. „Es rettet uns kein höh’res Wesen“, heißt es in der kommunistischen Internationale: „Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!“ Ich bin sicher, das unterschreibst Du. Aber wie können wir es schaffen?Auch Adorno, der Held meiner Jugend, hat seine Hoffnung „Erlösung“ genannt. Obwohl er Auschwitz ins Zentrum seiner Philosophie stellt. Ja, es ist wahr, gerade Adorno, der im „Grand Hotel Abgrund“ wohnte, wie man ihm höhnisch nachrief, gerade er hält an der Erlösung fest. Am Versprechen von Glück, sagt er. „Nenn es dann, wie du willst, nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! Ich habe keinen Namen dafür!“ Auch wer die Liebe nicht kennt, will Goethes Faust sagen, glaubt zu wissen, was das ist, aber weit gefehlt, sie muss erst erfahren werden. Nur „Liebe“ sagen können, oder „Glück“, reicht nicht aus. Aber eine Ahnung würde uns helfen, wenigstens suchen zu können.Da verweist uns Adorno auf die Glücksspuren im Alltag, die es doch gibt, prekär zwar, aber trotzdem. Deshalb ist Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Marcel Prousts großer Roman, für Adorno wichtig: Der Ich-Erzähler hat ein vollkommen unglückliches Leben gelebt, beharrt aber am Ende darauf, die Dinge, die wir alle kennen, mit Augen zu sehen, die das Paradies zu kennen scheinen. Als wäre es schon angebrochen. Zum Beispiel die Flieder, sie „erhoben zwischen ihren kleinen Herzen aus frischgrünem Blattwerk neugierig ihre Helmbüsche von malvenfarbenen oder weißen Federn, die selbst im Schatten noch von der Sonne glänzten, in der sie gebadet hatten, über das Gatter“.Der Rückblick am Ende oder nach dem Ende ist wichtig dabei. Wenn es mir schlecht geht, ist eine Wand zwischen mir und den Fliedern, aber wenn ich jetzt an sie zurückdenke, fallen mir Flieder ein, an denen wir uns freuten. Das ist die Glücksspur. Auch eine Reise entfaltet ihr Glück, wenn sie welches hatte, erst hinterher. Schon während ich sie unternahm, gab es Momente, in denen ich das Glück erfasste, aber im Ganzen gelang es noch nicht, weil sie auch anstrengend war.Und so geht es mit der Liebe zwischen Menschen, die ja auch etwas wie eine Reise ist. Wenn ich mit der Gefährtin nicht mehr zusammen bin, oder sie nicht mehr lebt, bin ich traurig, aber was sie war, füge ich jetzt erst zusammen. Beweist nicht das allein schon, dass sie nicht nur war, sondern auch ist?Lieber Gott, es mag so sein, es zu begreifen ist aber nicht einfach. Deshalb gab und gibt es die Rede von der Kirchenkanzel herab und die Predigt am offenen Grab. Das hat denen Halt gegeben, die zurückblieben. Nur, die Predigt braucht ihrerseits Halt, bei Dir, den es nicht gibt. Deshalb wenden viele sich ab. Ohne Dich ist es nun noch schwerer geworden. Wir haben Proust und andere Kunst, aber nicht alle können lesen wie Adorno. Dabei war er so wichtig, der Halt, auch weil ich selbst sterben werde. Bin ich dann noch? Auch wenn es mich nicht mehr gibt?Adorno spricht von Glücksspuren, sagt aber auch: „Wer stirbt, der merkt, dass er um alles betrogen ward. Und darum ist der Tod so unerträglich.“ Dass er nicht auch in Auschwitz vergast wurde, bereitet ihm, wie er schreibt, ein schlechtes Gewissen. Lieber Gott, gibt es eine Brücke zwischen so entgegengesetzten Erfahrungen? Es kann nur die sein, auf Erlösung trotzdem zu hoffen und, nur darauf gestützt, zu kämpfen. Jesus am Kreuz hat es gegeben, den zu Tode gefolterten Menschen, und er hat Dich angerufen. „Warum hast Du mich verlassen?“, war der Schrei, mit dem Jesus verstarb.So hat das Kreuz auf den Punkt gebracht, was der Mensch war und immer noch ist. Aber auch dass trotzdem, nein gerade deshalb, Jesu Jünger wollten, dass Du seist, und zu kämpfen begannen, war Wirklichkeit. Sie waren sicher: So soll es nicht bleiben. Wir hören auf, alle, Folter mit Folter zu beantworten, Massaker mit Massaker. Oder mit Kriegen. Die Jünger stützten und halfen einander, auch das gehört zur Rettung.Nicht einmal Spuren von Glück wird finden, wer sich abwendet vom Massaker, sich nicht fragt, wie es aufhören kann, und dafür etwas tut. Nur wer revoltiert, darf mit Brecht sagen: „Keinen verderben lassen, auch nicht sich selber, jeden mit Glück erfüllen, auch sich. Das ist gut.“ Auch wenn das Verderben grundsätzlicher ist, als selbst Brecht glauben wollte: Darin hatte er recht.Vergeben statt BlutracheIn einer Welt, die auf Kriege einschwört, wie es immer geschieht und auch heute, hier und jetzt in der Bundesrepublik, fällt es schwer, einander zu vergeben. Das heißt die Schuld, statt sie „bestrafen“ zu wollen, als wäre man selbst unschuldig, einander wegzunehmen. Kriege lehren das Gegenteil, die Blutrache. Werden wir sagen: Wir wenden die Zeit anders? Denn wir „sind nicht von der Welt“ (Johannes 17, 16)?Auf das Wegnehmen der Schuld käme es an. Das wäre Gerechtigkeit: Andere gerecht machen. Man ist es selbst nicht, aber dadurch wird man auch selbst gerechter. Wenn es Erlösung gibt, das ist sie. Nach uns kämpfen die Enkel weiter: Wird ihnen das, was wir tun, und auch wie wir es tun, eine Hilfe sein? Dazwischen unser Tod: Verliert er so seinen „Stachel“ (1. Korinther 15, 55)? Lieber Gott, den es nicht gibt: Dein Reich komme. Amen.
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