Die Komposition, die beim 25. Berliner Ultraschall-Festival für neue Musik zuletzt aufgeführt wurde, war eine große Offenbarung. Und so soll hier, nach fünf Tagen und vielen spannenden Stücken, nur von diesem einen die Rede sein: Im Entschwinden (2022) für Orchester von Mark Andre. Es gab grundsätzlichen Aufschluss, weil es auf eine Frage antwortete: Wie kann denn ein Ereignis ohne jegliche Dauer – ein „Zeitpunkt“: jemand, der gerade noch da war, ist plötzlich weg – musikalisch dargestellt werden? Andreas Göbel von rbbKultur (der Sender veranstaltet und moderiert das Festival gemeinsam mit Deutschlandfunk Kultur) warf diese Frage auf, als er mit dem deutsch-französischen Komponisten vor der Aufführung sprach. Da
6;sischen Komponisten vor der Aufführung sprach. Darin war Ultraschall immer großartig, dass über die Musik, die man gleich hörte, vorher gesprochen wurde.14 Minuten waren angekündigt. Der Jemand, der entschwindet, ist der auferstandene Jesus Christus. Zwei seiner Jünger wandern zum Dorf Emmaus und werden von einem Fremden begleitet, der ihnen zeigt, dass Jesu Tod am Kreuz „von Mose und allen Propheten“ vorausgesagt worden sei. Als sie dann noch bei Tisch sitzen und der Fremde das Brot bricht, erkennen sie, dass er selber der Auferstandene ist – doch im selben Moment „entschwand er ihren Blicken“. Mark Andre übersetzt das in vor und nach dem Entschwinden gleichartige, sich jedoch modifizierende Klänge (gespielt vom Deutschen Symphonieorchester Berlin unter André de Ridder). Zuerst setzen knappe Akkorde auf einem eher statischen Musikfeld Akzente; im Nachhinein wird klar sein, das ist Christus, aber verhüllt. Auch die Windgeräusche sind noch dunkel. Das biblisch-hebräische Wort für (den heiligen) Geist ist übrigens „ruah“, „bewegte Luft“. Die Zeit nach dem Entschwinden tritt unmerklich ein. Die Christus-Akkorde klären sich auf, das Musikfeld wird stiller, der Wind leise ekstatisch. Das Stück hat sein musikalisches Thema, eben Christus, ans Ende gesetzt und mit der Variation begonnen.In der Physik gibt es das nichtEs gibt keinen „Zeitpunkt“ dazwischen, und mehr noch, wir sind zwar in der Zeit, aber sie vergeht nicht. Dass man sich Zeit als aus Punkten bestehend denkt, die unablässig verschwinden, ist die physikalische Vorstellung. Doch im Gegenstandsbereich der Physik gibt es so etwas wie Gegenwart nicht. Gegenwart wird von Menschen erlebt: Sie ist nie ein Punkt, sie hat immer eine Ausdehnung. Auch wenn sich in ihr etwas verändert, bleibt es dieselbe. Wie schon Augustinus, der Kirchenvater, gezeigt hat, wird das gerade von der Musik veranschaulicht: In einer Komposition geschieht viel, doch hören wir kein Verschwinden abstrakter Punkte, sondern Sinn, und der bleibt eine einzige Gegenwart.Das hat die moderne Musik noch sinnfälliger gemacht als die ältere. Eine Beethoven-Sinfonie etwa lässt uns die physikalische Zeit noch nicht ganz vergessen. Sie betont ja, dass sich etwas „entwickelt“. Zur Musik des 20. Jahrhunderts hat man hingegen gesagt, sie scheine Gemälde zu zeigen, die sich natürlich gleich bleiben, wenn nur die Blicke, in einem Zeitablauf, über ihre Details gleiten. Doch auch diese Vorstellung gemahnt noch an die physikalische, verschwindende Zeit. Mark Andre hat nun hörbar gemacht, dass im Denken und Fühlen gar nichts verlorengeht, wenn es sich wandelt. Ja sogar wenn eine Wende geschieht. Das Dunkel „entschwindet“ dann, aber nicht das Dunkle. Dieses bleibt und wird hell.