Wie aus großer Entfernung

Musikfest Berlin "Mi-Parti" von Witold Lutoslawski. Standing ovations für Martha Argerich. Sinfonia da Requiem

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Martha Argerich
Martha Argerich

Foto: Holger Kettner

Das Konzert am vorigen Sonntagabend (es wurde am Montag wiederholt) war ein weiterer großartiger Höhepunkt des Musikfests, den ich gern zum Anlass nehme, meine diesjährige Berichterstattung abzuschließen. Zum einen stand Witold Lutoslawski, als Hauptfigur des Festivals, noch einmal auf dem Programm mit Mi-Parti aus dem Jahr 1974, einem Orchesterstück von nur 14 Minuten Länge. Für mich sind die Musique funèbre, von der die Rede war, und Mi-Parti die emotional berührendsten Stücke Lutoslawskis. Welche Art Emotion aufgeregt wurde, lässt der Titel schon ahnen, denn "Mi-Parti" ist der Name für Kleider aus zwei gegeneinander gesetzten Farben. Vom Mittelalter herrührend, handelt es sich meist um zwei Farbstreifen von oben nach unten, deren Grenzlinie in der Mitte des Körpers verläuft.

Lutoslawskis Stück beginnt mit einem Streicherteppich, der eine Traumlandschaft zu evozieren scheint. Es ist ungewöhnlich, dass er am Anfang ein Feld der Ruhe sich ausbreiten lässt und ebenso, wie wir sehen werden, auch endet. Nach einiger Zeit wird eine Hornkantilene dem Teppich aufgemalt. Wer so träumt, möchte der noch aufwachen? Diese Musik hat tatsächlich eine Todeskonnotation, wie daraus zu ersehen, dass sie einem Zitat von Charles Ives' Washingtons Birthday, dem ersten Satz der Sinfonie Holidays, sehr nahe kommt. Die Parallele wird besonders hörbar bei Antoni Wit und dem Polnischen Nationalorchester in der Gesamtausgabe der Orchesterwerke, auf die ich schon verwiesen habe. Denn da wird die Traumruhe durchs Horn nur bestärkt. Anders ist es, wenn Lutoslawski dirigiert. Lutoslawski selbst hat wohl darstellen wollen (EMI Classics 2011), wie aus dem Traum heraus sich aktive Impulse regen und verdichten bis zum schließlichen Aufwachen.

Wie Barenboim es aufgefasst hat, kann ich gar nicht sagen, da mir die Differenz der Interpretationen erst im Nachhören aufgefallen ist. Aber das gehört zum Guten am Konzertbesuch: Die Ohren werden weit mehr geöffnet als vorher zuhause vor dem CD-Player, und nachher wird man auf die wichtigen Fragen aufmerksam. Wenn es erlaubt ist, eine Vermutung zu äußern, sage ich, Barenboim wird eher wie Wit dirigiert haben, da er, vom avantgardistischen Musikverständnis herkommend, nicht so sehr die Dramatik eines Verlaufs zu betonen als komplexe Klänge auszumalen und ineinander übergehen zu lassen pflegt. Aber es ist auch wieder fraglich, denn bei Lutoslawski geschieht ja beides zugleich - das ist seine Position in der Avantgarde - und Barenboim weiß das natürlich. Ich würde nicht spekulieren, wenn es nicht einen Sinn hätte: Wir können die Frage noch entscheiden, uns nämlich den Konzertabend im Radio anhören, am 29. September ab 20.04 bei rbb.

Zurück zum Schlafenden oder Schlafes Bruder, wer es auch sei. Nach dem Aufwachen wird bald klar, weshalb er lieber weitergeträumt hätte. Zunächst wechseln Episoden und abgebrochene Anläufe, wie man es aus andern Kompositionen Lutoslawskis kennt. Doch immer wieder wird signalisiert, dass kein Zusammenhang zustande kommen soll. Nach einem besonders abrupten Bruch kommt ein Klangfeld ganz anderer Art zustande, ein grauenhaftes. So hört es Karsten Erdmann im Programmheft und ich höre es wie er. In diesem "Kulminationspunkt", schreibt Erdmann, scheine "alle vorgängige Ordnung ins Chaos umzuschlagen", ich würde sagen endgültig umzuschlagen, denn man hat doch auch vorher nur Ordnungsanläufe gehört. "Dem schließt sich ein so beeindruckender wie enigmatischer Abschnitt an: Eine gleichsam stehende Klangfläche, aus der signalartige Rufe einzelner Blechbläser heraustönen. [...] Aus dieser Fläche und den verwehenden Bläsersignalen erhebt sich eine lange Kantilene der Streicher, windet sich wie gegen Widerstände langsam in die Höhe und beschließt in höchster Lage, nur noch sekundiert von kurzen Einwürfen der anderen Instrumente, mit der Geste des Entschwindens das Stück."

Eine "stehende Klangfläche" hatten wir schon am Anfang. Sie wird hier tatsächlich ungefähr wiederholt, so dass das ganze Stück dreiteilig wie ABA erscheint. Die "Kantilene der Streicher" entspricht der Kantilene des Horns am Anfang. Der Drang zum Aufwachen ist aber verloren. Auch in der Interpretation des Dirigenten Lutoslawski. Wir werden nun nicht mehr an Ives, sondern mehr an die depressive Melancholie eines Alban Berg erinnert. Erdmann fragt: "Was 'bedeutet' eine solche Musik? Ist der dynamische Kulminationspunkt im Zentrum der Komposition klingendes Bild frenetisch überbordender Ekstase - oder tönendes Symbol apokalyptischer Zusammenbrüche? Sind die folgenden Rufe der Blechbläser Schreie von Überlebenden unsagbarer äußerer oder innerer Katastrophen? Hören wir am Ende, wie die versehrte oder unversehrte Seele nach diesen Katastrophen in Regionen des Transzendenten entschwindet?"

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Zum andern! Der Konzertabend war zum andern ein Höhepunkt wegen der Interpreten. Dass Barenboim Besonderes bietet, war von der ersten Minute an klar, als er Mi-Parti mit einem Pianissimo einsetzen ließ, das an die Grenze des Hörbaren ging. Noch erstaunlicher war dann, wie leise er an entsprechenden Stellen des anschließenden Klavierkonzerts Nr. 1 C-Dur von Beethoven begleitete, besonders im zweiten Satz (Largo).

In der Vorankündigung des Musikfests hatte noch Chopins Klavierkonzert Nr. 1 auf dem Programm gestanden, und ich war zunächst wegen des Wechsels enttäuscht. Denn Chopins Nr. 1 hört man selten, und es ist doch eine wundervoll lebendige Musik. Aber die Solistin des Abends, das war die große Martha Argerich, spielte jeden Zweifel hinweg. Sie war für ihr dramatisches Spiel bekannt: Jetzt im Alter von 72 Jahren spielt sie mit überlegener Ruhe. Der erwähnte zweite Satz (Largo) wurde zu einem Zwiegespräch, das aus der Zeit gefallen schien, mit wie aus großer Entfernung hereinwehenden Orchesterklängen. Es war, als habe die Argentinierin durch ihr exzeptionelles Spiel auf die Bedeutung hinweisen wollen, die gerade dieses Klavierkonzert für sie hat. Denn mit ihm debütierte sie einst als Achtjährige. Und trägt immer noch dieselbe lange, inzwischen graue, einst schwarze Mähne, die sie als 21jährige trug!

Dann kamen aber noch die Zugaben. Zuerst spielte sie "Traumes Wirren", die Nr. 7 der Fantasiestücke op. 12 von Robert Schumann. Das ist eine "Etüden"-artige äußerst virtuose Musik, in der wieder jene Zweideutigkeit angelegt ist, von der wir sprachen: Wenn Jörg Demus sie spielt, wirkt sie gerichtet dramatisch, während sich unter Argerichs Händen aus dem geschwinden Perlen der Töne Akzente herausheben, die übers Ganze hin zwar einen Verlauf andeuten, doch am Höreindruck eines nunc stans, ewigen Augenblicks, nichts ändern. Zu diesem Zeitpunkt glaubte man, die Begeisterung des Publikums sei gar nicht mehr steigerbar. Die Hälfte war schon zu standing ovations übergegangen. Wie aber erst, als Barenboim sich neben ihr am Flügel niederließ!

Ich habe vor ein paar Jahren gesehen, wie er seinen Sohn nach dessen Boulez-Konzert an den vorderen Rand des Podiums schob, als sei er eine Puppe, die sich nicht selbst an den richtigen Ort bringen kann. Wo er den Applaus empfangen sollte. Nun war es Martha Argerich, die er mit derselben rauen Herzlichkeit und paternalistischen Selbstironie auf den Pianositz neben sich bugsierte. Das Rondo A-Dur von Franz Schubert führte wiederum in eine Traumlandschaft, aus der es kein Erwachen zu geben schien, und tatsächlich, wie bei Schubert ja nicht selten, hätte das Stück endlos weiterlaufen können, war aber doch nach zehn Minuten oder einer Viertelstunde vorbei... Nun applaudierte der ganze Saal stehend.

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Benjamin Britten hatte ich am Rand mitbehandeln wollen. Er wurde wie Lutoslawski aus Anlass seines 100. Geburtstags geehrt. Zu den Kompositionen, die in Erinnerung gerufen wurden, gehörte die Sinfonia da Requiem op. 20 aus dem Jahr 1940. Sie war am 8. September vom Konzerthausorchester Berlin unter Ilan Volkov zu hören. Im selben Konzert war vorher Jeux vénitiens für Kammerorchester (1960-61) von Lutoslawski gegeben worden, das erste Stück, in dem der polnische Komponist seinen "aleatorischen Kontrapunkt" verwendet und mit einem solchen Abschnitt gleich einsetzt. Wir haben bei Besprechung seiner 2. Sinfonie gesehen, dass der dort einleitende "aleatorische Kontrapunkt" an die "Fanfare" erinnert, mit der Leos Janaceks Sinfonietta die Zukunft der Stadt Brünn beschwört. Dagegen lässt mich der einleitende Abschnitt der "venezianischen Spiele", wo nicht Blech- sondern Holzbläserlinien sich überlagern, tatsächlich an Venedig denken, das merkwürdig flirrende Licht dieser Stadt - obwohl Lutoslawski behauptet hat, die Musik habe mit ihr nichts zu tun, sondern heiße nur "venétiens", weil es sich um ein von dort bestelltes Auftragswerk handle.

Es ist offenbar der Krieg, über den Brittens Sinfonia da Requiem trauert, die sich in die Sätze "Lacrymosa", "Dies Irae" und "Requiem Aeternam" einteilt. Sie ist sehr ähnlich angelegt wie die Symphony liturgique von Arthur Honegger, die allerdings erst nach dem Krieg (1945-46) entstand und noch wuchtiger ist. Ich will zum Abschluss die groteske Vorgeschichte von Brittens Sinfonie erzählen, beziehungsweise Eric Walter White das Wort geben (Benjamin Britten. Eine Skizze von Leben und Werk, Zürich 1948, S. 29 f.):

"Die Sinfonia da Requiem [...] hatte eine besonders merkwürdige Geschichte. Irgendwann im Jahre 1940 hatte ihn der British Council angefragt, ob er bereit sei, eine Sinfonie für ein besonderes Fest zu Ehren der Dynastie einer fremden Macht zu schreiben. Britten sagte im Prinzip zu, vorausgesetzt, dass keine Art von musikalischem Hurrapatriotismus verlangt würde. Nach weiteren Erkundigungen kam heraus, dass es sich bei der fremden Macht um Japan handelte und bei dem Fest um die 2600. Wiederkehr des Begründungsjahres der Dynastie ihres Mikados durch Jimmu Tenno im Jahre 660 v. Chr., und dass andere Komponisten aus Frankreich, Deutschland (Richard Strauss), Italien und Ungarn ähnliche Aufträge empfangen hatten. In der Folge wurde der Entwurf zu einer Sinfonia da Requiem, eine Form, die im Hinblick auf den chinesisch-japanischen Krieg nicht ungeeignet schien, den zuständigen japanischen Behörden vorgelegt und akzeptiert. Jedoch einige Monate nach der Überreichung der vollendeten Partitur erhielt er einen wütenden Protest der japanischen Gesandtschaft, in dem sich diese beklagte, dass die christliche Ideologie, die die Basis des Werkes bilde, und seine drei Sätze Lacrymosa, Dies Irae und Requiem Aeternam eine beabsichtigte Beleidigung des Mikado darstellten, weshalb die ganze Sinfonie abgelehnt wurde. Mit [Wystan Hugh] Audens Hilfe setzte er eine würdige Antwort auf. Aber kurz darauf griffen die Japaner Pearl Harbour an, und auf das hin wurde jede Verbindung abgebrochen. Die erste Aufführung der Sinfonia da Requiem fand im März 1941 durch die New Yorker Philharmoniker unter Barbirolli statt. Man hörte nie etwas von einer Aufführung in Tokio, aber es ist gut möglich, dass im Sommer 1941 Proben stattgefunden haben."

Den Veranstaltern des anregenden Festivals, das heute zuende geht, sei gedankt.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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