Die von Kanzler Olaf Scholz verkündete „Zeitenwende“ ist kein Selbstläufer – immer von Neuem muss sie versichert werden. Gerade zurzeit geschieht das mit Inbrunst. Jüngst erklärte zunächst Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD): „Deutschlands Größe, seine geografische Lage, seine Wirtschaftskraft, kurz: sein Gewicht, machen uns zu einer Führungsmacht, ob wir es wollen oder nicht. Auch im Militärischen. Deutschland kann das.“ Wenig später wiederholte der Kanzler: „Als bevölkerungsreichste Nation mit der größten Wirtschaftskraft und Land in der Mitte des Kontinents muss unsere Armee zum Grundpfeiler der konventionellen Verteidigung in Europa werden, zur am besten ausgestattet
Zeitenwende in Deutschland: Sprechen bleibt besser als Schießen
Aufrüstung Deutschland muss eine Führungsmacht sein, sagen Kanzler Olaf Scholz und die Verteidigungsministerin Christine Lambrecht. Dass sie das vor allem militärisch meinen, birgt eine große Gefahr
s unsere Armee zum Grundpfeiler der konventionellen Verteidigung in Europa werden, zur am besten ausgestatteten Streitkraft in Europa.“ „An führender Stelle“ werde Deutschland „für die Sicherheit unseres Kontinents“ wirken.Unsere „Größe“? Das soll heißen, wir können mehr Geld für die „Kampfflugzeuge, schweren Transporthubschrauber, Eurofighter, die Nachfolge für den Schützenpanzer Marder, Korvetten 130 und Fregatten 126“, von denen Scholz spricht, aufbringen als kleinere europäische Länder. Aber Scholz und Lambrecht haben von Führung gesprochen. Heißt Führung einfach, dass Deutschland in Europa an erster Stelle der Militärausgaben stehen wird? Dann wäre es besser gewesen, den Begriff beiseitezulassen. Zumal die Bundesregierung, wie Scholz klargestellt hat, weiter nicht nach Atomwaffen strebt – nur in „konventioneller“ Hinsicht soll die deutsche Armee der europäische „Grundpfeiler“ sein. Doch auch von Deutschlands europäischer Mittellage ist die Rede, die doch nicht Ursache seiner ökonomischen Stärke ist. Es geht wohl wirklich um einen Führungsanspruch aus dem Gefühl heraus, man sei, als eine Art Zentrum in Europa, dazu verpflichtet.Der Sozialdemokratin Christine Lambrecht und dem Sozialdemokraten Olaf Scholz war ein solcher Anspruch nicht in die Wiege gelegt, sie meinen nun aber offenbar, ihm nicht mehr ausweichen zu können. Werden sie doch auch dazu gedrängt: Deutschland solle endlich europäisch führen, ist aus der Ukraine zu hören, und da ist mehr gemeint, als dass es militärisch aufrüsten soll. Es soll Panzer westlicher Bauart in die Ukraine liefern, auch wenn das mit den NATO-Verbündeten nicht abgesprochen ist und Scholz sich bisher geweigert hat, es im Alleingang zu tun. Vorangehen im Alleingang – so verstanden würde das Wort „Führung“ Sinn machen. Steuert die Bundesregierung darauf zu?Ein Freund aus den USAScholz und Lambrecht meinen einräumen zu müssen, dass uns die ökonomische und militärische Kraft des Landes zur Führung prädestiniere. Doch das wichtigste deutsche Alleinstellungsmerkmal, das einen Führungsanspruch in der Tat begründen könnte, haben die beiden zu nennen vergessen. Das ist die ganz ungewöhnliche Robustheit und tiefe Verankerung der deutschen Demokratie. Was sie wert ist, tritt im Vergleich vor allem mit den USA hervor. Was macht Demokratie überhaupt erst möglich, haben deren Verfassungsväter vor 250 Jahren gefragt. Ihre Antwort steht in einem der Gründungsdokumente, den Federalist Papers: Es muss einen Fundus gemeinsamer Überzeugungen geben, der alle Mitglieder einer Gesellschaft eint, ungeachtet dessen, dass sie sich außerdem noch streiten und es dabei zu Mehrheiten und Minderheiten kommt. Diese demokratische Grundbedingung ist gerade in den USA immer weniger gegeben. Politische Mehrheit und Minderheit stehen sich dort als Feinde gegenüber. Dass jemand wie Donald Trump 2025 erneut Präsident werden könnte, wäre in Deutschland undenkbar.Man kann weniger abstrakt davon sprechen. Was sich in Parlamenten und Wahlkämpfen zeigt, ist doch nur die Spitze des Eisbergs, oder die Oberfläche eines Wärmestroms. Ein alter Freund aus den USA, der kürzlich hier zu Besuch war, schrieb mir hinterher verzweifelt: „In der vergangenen Woche habe ich jeden Abend ein Gespräch geführt, und auch zweimal beim Mittagessen. Um in den USA ein Gespräch zu arrangieren, selbst mit Leuten, die ich kenne und mag und die mich mögen, müssen wir einen Monat im Voraus einen Zoom vereinbaren, und jeder weiß, dass es nicht länger als eine Stunde dauern wird.“ „Bei uns gibt es keine Gesprächskultur beim Abendessen, wie ihr sie in Deutschland habt. Die Konversation selbst scheint eine deutsche Errungenschaft zu sein.“ „Ich kann auch nicht erklären, warum es bei uns keine europäischen Cafés gibt und warum jedes Café (jedes einzelne Café) in den USA nicht wirklich für ein Gespräch zur Verfügung steht, sondern eher kleine Tische hat, die alle (alle) mit Personen besetzt sind, die mit Ohrstöpseln auf Laptops tippen.“ In Berlin war dieser Freund zu Besuch gewesen, einer Stadt, die aufgrund ihrer geistigen Atmosphäre zum Magneten für Intellektuelle aus aller Welt geworden ist.Placeholder infobox-1Die Konversation ist ganz sicher keine deutsche Errungenschaft, sie blüht auch in England, Frankreich, Italien. Man sieht es mit bloßen Augen, in London etwa an den jungen Büroangestellten, die nach Dienstschluss große Trauben vor den Pubs bilden. Aber in Deutschland kommt hinzu, dass jeder mit jeder redet, ungeachtet der Parteipräferenz, wobei sich, von Rändern der Gesellschaft abgesehen, auch keine Fremdenfeindschaft, kein Rassismus störend einmischt. In Frankreich ist das Klima schon etwas schwieriger, in Italien noch viel mehr. In Deutschland bräuchte man demokratische Überzeugungen, die von (fast) allen Bürgern und Bürgerinnen geteilt werden, gar nicht zu erkunden, denn auch ohne das sieht man, dass die Demokratie gelebt wird. Dass es hierzulande über alle politischen Differenzen hinweg einen grundlegenden Konsens gibt, der es einfach macht, mit irgendwem irgendwo zu sprechen, ist alltägliche Erfahrung. Da hat Deutschland vielen etwas voraus, und wenn es von daher führte – nicht weil es Geld hat, sondern aus der Kraft seiner gelebten Demokratie –, es wäre zu begrüßen! Weil Führung dann ja hieße, andere zu mehr Demokratie zu inspirieren.Haben wir uns nun in ein anderes Thema verirrt als das der militärischen Verpflichtungen, die die deutsche Regierung meint, sich auferlegen zu müssen? Nein. Denn alle militärische Aufrüstung steht unter der Parole, die der gegenwärtige US-Präsident Joe Biden ausgibt: „Demokratie“ versus „Autoritarismus“. Rüstet Deutschland nicht auf, um den Autoritären die Stirn zu bieten, Wladimir Putin und Xi Jinping, dem russischen, dem chinesischen Präsidenten? Geht es nicht um die Verteidigung der Demokratie? Die Demokratie muss aber auch gegen einen möglichen US-Präsidenten Trump verteidigt werden, oder andere seinesgleichen wie den Republikaner Blake Masters, der, wie die FAZ schreibt, „Amerika in eine darwinistische Tech-Monarchie umbauen“ will. Woran man schon sieht, dass es im Kern nicht um militärische Stärke gehen kann – ganz gewiss nicht auf deutscher Seite. Um Führung aber sehr wohl, auch den Freunden gegenüber. Und, ja: um Führung aus einer geografischen Mittellage heraus. Deutschland ist nicht nur demokratischer als Russland, sondern auch demokratischer als die USA, und auch im Vergleich mit den USA ist die Differenz nicht bloß graduell.Aufrüsten statt aufblühen?Die Frage, ob militärische Stärke nicht dazugehört, auch wenn es darum geht, Deutschlands demokratisches Potenzial als Vorbild für andere einzubringen, sollten sich trotzdem auch deutsche Linke stellen. Im Streit um Waffenlieferungen für die Ukraine und die „Zeitenwende“ überhaupt hat sich die deutsche Linke sehr stark ihrer pazifistischen Tradition besonnen. Sicher mit Recht hält sie an der Überzeugung fest, dass man mit Waffen niemals einen Frieden, der mehr ist als ein nur zeitweiliger Waffenstillstand, irgendwo auf der Welt wird erreichen können. Es ist aber andererseits kaum zu bestreiten, dass man in dieser Zeit, wo sich die Ukrainer und Ukrainerinnen gegen den russischen Überfall zur Wehr setzen, eine zum Gespräch der Kontrahenten auf internationaler Ebene mahnende Stimme, die sich der militärischen Logik aller anderen Beteiligten einfach entziehen wollte, schwerlich irgendwo anhören würde. Es kommt hinzu, dass künftige US-Präsidenten nicht unbedingt Freunde (West-)Europas sein werden.Wiederum muss bedacht werden: Die deutsche Demokratie und Gesprächskultur ist sicher nicht zuletzt eine Folge davon, dass das Land seit Langem – seit der Bundesregierung Willy Brandt – alles andere als militarisiert gewesen ist. Gerade im damaligen Westberlin war zu spüren, wie zwischen dem Zuzug von Wehrdienstverweigerern und dem Aufblühen einer Debattenkultur ein Zusammenhang bestand. Die heute aufrüsten, müssen sich fragen lassen, wie sie vermeiden wollen, dass eine Wieder-Militarisierung das deutsche demokratische Potenzial wieder schwächt.Einfache Antworten zu finden ist schwer. Müssen wir eine Weile „auf Sicht fahren“? Auch innerlinke Debatten sollten sich auf die Frage „Pazifismus ja oder nein“ zumindest nicht verengen. Man kann zu verschiedenen Schlüssen gelangen – wichtig ist, dass gerade unter Linken trotz allen Streits ein grundsätzlicher Konsens gewahrt bleibt und gelebt wird. Das Wichtigste bleibt, dass wir die deutsche Demokratie und Gesprächskultur verteidigen. Dass wir eine Politik der Gespräche statt der fruchtlosen Konfrontation auch international durchsetzen – gegen Autoritäre aller Art. Selbst wenn sie aus den USA kommen. „Deutschland kann das.“ Aber die Bundesregierung muss es auch wollen. Nur militärisch „führen“ zu wollen, wäre bei Weitem nicht genug und, ja, wäre vielleicht schon zu viel.