Zur Turangalila-Symphonie (II)

Messiaen So viele Organisationsprinzipien auf einmal: Todesthema und Liebesgesang, zwei Teile, „Turangalila“- und andere Sätze, Symphonie und Klavierkonzert in Einem...

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Mit Teil I beginnen

Die Turangalila-Symphonie hat einen zeitlichen und örtlichen Bezug, zu dem sie sich sehr wahrscheinlich nicht gleichgültig verhält. Im Juli 1946 begann Messiaen an ihr zu arbeiten, mit der Arbeit an Harawi, dem ersten Teil des Tristan-Zyklus, hatte er im Mai 1945 begonnen, nachdem er selbst am Weltkrieg hatte teilnehmen und einige Zeit in einem deutschen Kriegsgefangenenlager zubringen müssen. Auch die Bestellung der Symphonie durch den russischen Dirigenten und Mäzen Sergej Kussewitzki datiert von 1945. Kussewitzki hat in dieser Zeit auch bei anderen Komponisten, darunter Bartok, Strawinsky, Schönberg bestellt und ihnen immer ganz freie Hand gelassen. Wer wollte sich wundern, dass Schönberg mit Ein Überlebender aus Warschau antwortete (1947). In Europa entstanden etwa gleichzeitig Arthur Honeggers Symphonie liturgique (1946) mit dem zweiten Satz „De profundis“ nach Psalm 130, „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“, oder von Karl Amadeus Hartmann der Klagegesang für großes Orchester (1944/45). Messiaen indessen will „frenetische Freude“ verkünden, wie wir gehört haben. Doch vergessen wir nicht, dass von einer Freude die Rede ist, „wie sie nur einer ermessen kann, dem in tiefem Elend eine Ahnung von ihr zuteil geworden ist“. Mir fällt dazu ein, wie sich der Theologe und frühere Freitag-Herausgeber Wolfgang Ullmann an die Bombardierung Dresdens im Februar 1945 erinnerte: „Du lebst ja noch“, habe er immer wieder zu sich gesagt, als er den Luftschutzkeller verließ.

Auch der Ort der Uraufführung ist wichtig. Honegger konnte seiner Klage-Symphonie im selben Jahr 1946 eine Symphonie der Freude nachfolgen lassen – die Deliciae Basiliensis, „Basler Freuden“ -, weil er in der Schweiz lebte und die Symphonie von der Schweiz auch handelt. Das Land hatte am Krieg nicht teilgenommen. Eine Freudensymphonie von Hartmann aus dieser Zeit, oder gar von Schönberg, ist nicht vorstellbar. Und auch von Messiaen wäre eher eine Musik im Martyriums-Stil zu erwarten gewesen. Hatte er doch bereits im deutschen Lager auf den Krieg reagiert, dort das schwermütige Quatuor pour la fin du temps, „Quartett für das Ende der Zeit“ im Sinne der Johannes-Offenbarung, Kapitel 10 - „Es soll hinfort keine Zeit mehr sein“ - komponiert und auch uraufführen können (im Januar 1941). Der Auftrag von Kussewitzki inspirierte ihn aber dazu, umgekehrt etwas wie Die Zeit geht weiter, The Games must go on auszurufen. Wir haben es gehört: „Turangalila schließt [...] gleichzeitig die Bedeutungen [...] Zeit [...] und Tod ein.“ Mit der Zeit geht das „Leben“ und gehen die „Liebesfreuden“ weiter. Der Tod in schrecklicher Gestalt, wie er sich gerade wieder historisch gezeigt hat, wird deshalb nicht etwa ausgeblendet. Er ist eigentlich das Thema der Symphonie, die mit dem einschlägigen „Statuen-Thema“ beginnt. Aber es geht darum, ihn zu entmächtigen. Alle „Liebesfreuden“ der Symphonie können als Wege zu seiner Entmächtigung angesehen werden. Dennoch hätte Messiaen wohl anders komponiert, wäre das Werk für eine Uraufführung nicht in Boston, sondern in Frankreich vorgesehen gewesen.

Die Relativierung des Statuen-Themas und damit des Todes kündigt sich schon im Eröffnungssatz an, den wir jetzt ein wenig näher betrachten wollen. Wenn Messiaen das Thema so nennt, steht ihm sicher die Statuen-Erscheinung des Komturs in Mozarts Don Giovanni vor Augen. Als „brutal, bedrückend und erschreckend wie altmexikanische Monumente“ charakterisiert er es - womit wir auf Altmexiko in diesem Musikfest nach Rihm/Artaud und Eisenstein zum dritten Mal stoßen -, Worte, die gewiss auch dem Weltkrieg gelten könnten. Die musikalische Darstellung hat aber eher etwas Witziges und erinnert gerade auch so an jenen Komtur, dessen Stimme, wenn er sich vor Don Giovanni mit der „himmlischen Speise“ brüstet, ins tiefste schwärzeste Register fällt. Witzig ist die Art, wie das Statuen-Thema eingeführt wird, was gleich in den ersten Takten der Symphonie geschieht. Hier hat man den Eindruck, dass sich Messiaen auch ein wenig über die amerikanische Unterhaltungsindustrie belustigt. Oder denkt er an den Beginn von Alban Bergs Lulu? „Hereinspaziert in die Menagerie“ kann dieser Einsatz jedenfalls passend beschrieben werden. Mit großem Pomp wird ein Vorhang aufgezogen, dem allerlei Lametta aufgeklebt ist, und dann erscheint pathetisch aufgeblasen dieses doch recht banale Ding!

War das schon alles? Mit einer Kadenz folgt das Solo-Klavier. Es scheint zu warten, dass noch mehr geschieht, und so kommt es auch. Ganz plötzlich bricht der gewaltige „Mittelteil“ ein. Als solcher erscheint er formal, obwohl ihm nichts folgt als eine ganz kurze Anspielung auf den schmierenkomödiantischen Anfang, der dann sogar wie eine Seifenblase verpufft. Den „Mittelteil“, der in Wahrheit die Hauptsache ist, wird man schon beim ersten Hören höchst aufregend finden. Messiaen beschreibt ihn als „Übereinanderschichtung zweier [verschiedener] ‚rhythmischer Ostinati‘ für Holzbläser und Streicher, [drittens] ein Gamelan und eine vierte Episode, in der Blechbläser und Klavierakkorde miteinander abwechseln und einander antworten“.

„Gamelan“ nennt er nach javanischem und balinesischem Vorbild ein Ensemble von Metallschlag- und Klavitaturinstrumenten (neben dem Klavier das Glockenspiel, die Celesta und das Vibraphon) innerhalb des Gesamtorchesters - wie man sieht oder vielmehr hört, steht nicht nur der Titel Turangalila für die Europa überschreitende Offenheit der Symphonie. Die „Gamelan-Schicht“ kommt hier als eine von mehreren ins Spiel, bestehend aus rhythmischen Unterschichten, die durch die ungewohnten Klänge der Instrumente voneinander abgehoben sind. Wie sich diese rhythmisch gegeneinander verschieben, so die Schicht im Ganzen gegen die andern Schichten des „Mittelteils“. Und was sind das für Rhythmen! Zum Beispiel wird „eines der 120 Tala-Metren“ verwendet, „wie sie der indische Gelehrte Sharngadeva in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in seinem Kompendium Samgitaratnakara aufzeichnete. Messiaen hatte sich bereits während seines Studiums von der rhythmischen Feingliedrigkeit dieser Formeln fasziniert gezeigt, die häufig eine minimale Dehnung aufweisen und sich insgesamt von den eher vergröberten rhythmischen Gewohnheiten des westlichen Kulturkreises abheben. Vor allem in den Werken nach 1950“, fügt Schweizer hinzu (a.a.O., S. 17), „wird sich Messiaen mit Vorliebe des Rückhalts in diesem wie in anderen präexistenten Materialien (z.B. griechischen Metren, gregorianischen Melodien, Vogelstimmennotaten) versichern.“

Rhythmisch bestimmte Schichten also, wobei am meisten die Bewegung der Streicher besticht, und zwar durch ihre übermenschliche Ruhe; sie vor allem zieht das Ohr an und wirkt wie eine durch„sichtige“ Oberfläche, unter der die andern Schichten wie größere und kleinere Formationen von Meeresbewohnern mal mehr mal weniger geschwind, aber alle ganz unaufgeregt dahingleiten. Das ist so großartig anzuhören, dass man es nicht schade findet, vom Rest der Symphonie beim erst-, zweit- und drittmaligen Hören nicht allzu viel mitzubekommen, weil sie so überkomplex ist. Egal, man glaubt zu träumen. Kennen Sie diese Träume, die nur darin bestehen, dass man in nie gesehene, unfassbar schöne Landschaften hineingezogen wird; jahre- und jahrzehntelang kehren sie abwechselnd wieder, dabei gibt es sie alle gar nicht... Auf das, was noch folgen wird, gibt der „Mittelteil“ die Vorschau. Die ersten fünf der zehn Symphoniesätze sind immer wieder so gebaut, dass zuerst musikalische Themen als Bausteine vorgestellt und diese dann überlagert werden. Im sechsten bis zehnten Satz spielt dann der Entwicklungsgedanke eine größere Rolle. Der achte trägt es im Namen: „Développement de l’amour“. Der zehnte und letzte ist ein Sonatenhauptsatz. Die Entwicklung des achten Satzes läuft nun aber gerade darauf hinaus, dass es am Ende doch wieder zu einer Schichten-Überlagerung kommt; sie ist dazu da, das Statuen-Thema erstmals als bloße Schicht unter Schichten vorzuführen. Danach kommt es gar nicht mehr vor.

Dies Thema ist alles andere als ein Witz. Es repräsentiert den Schmerz des Weltlaufs, der nun einmal ein Lauf ist und nicht ein fertiger Zustand oder eine Kette von Wiederholungen; wer auf etwas wie Frieden hofft, muss sich dann sagen, dass der Weltlauf ihn wenn überhaupt dann später, viel später herbeigeführt haben wird, während der erlebbare Moment nur bestenfalls den Vorschein des Friedens und zugleich dessen Dementi enthalten kann. Für Messiaen verschmilzt beides im Martyrium miteinander, doch das Martyrium ist nicht Gegenstand der Turangalila-Symphonie. In diesem Werk treffen der Vorschein der himmlischen in der erotischen Liebe einerseits und die beständige Todesdrohung andererseits unvermittelt aufeinander. Gegenstand dieser Symphonie ist der Tristan-Mythos: Der läuft zwar auf den Tod der Liebenden hinaus, aber doch nicht so, dass sie es wissen. Der Tod bedroht sie. Sub specie aeternitatis ist er ein Witz, denn „stark wie der Tod ist die Liebe“ und die mächtigen Wasser, ihre Glut zu löschen, müssten erst noch erfunden werden - doch im erlebbaren Moment erschrecken sie vor ihm. Deshalb ist das Statuen-Thema nur in der Einleitung lustig, wo es zu sagen scheint, der Tod sei ein Papiertiger. Das ist wohl auch so. Es liegt aber jenseits unseres Vorstellungsvermögens. Die Symphonie gelangt wie gesagt nur dahin, dass das Thema sich im achten Satz mit der Schicht der erotischen Liebe polyphon verbindet, von ihr gleichsam einbezogen wird. Es bleibt jedenfalls da. Der Friede bleibt ein erhoffter.

*

Wie soll man den Ablauf und die Organisation der Symphonie beschreiben? Es ist schwierig und man ist versucht, zum Verständnis wieder und wieder Messiaens eigene Erklärungen heranzuzuziehen. So erfahren wir etwa, dass er nicht nur indische Rhythmusformeln im vierten Satz herangezogen (ragavardhana, laksmika und candrakala, vgl. Schweizer S. 29), sondern auch einen „Vogelstimmen-Kontrapunkt“ im sechsten untergebracht hat, „Gesänge einer Nachtigall, einer Amsel und einer Gartengrasmücke“, weil es ja um einen Garten geht, der mit den Liebenden dasselbe ist, wie wir schon hörten. Dieser Garten sei „voller hell und melodisch singender Vögel. ‚Alle Vögel der Sterne...‘, sagte Harawi.“ Die Schwierigkeit liegt darin, dass Messiaen nicht nur Klangschichten überlagert, sondern auf der Metaebene auch die Organisationsprinzipen.

Wie schon angedeutet, zerfällt die Symphonie in zwei Teile, von denen der erste einen mehr exponierenden, der zweite einen mehr entwickelnden Charakter hat. Kern des ersten Teils sind als zweiter und vierter von fünf Sätzen die beiden Liebesgesänge, „Chant d’amour“ 1 und 2, und wenn die Symphonie nur aus ihm bestünde, könnte gesagt werden, ihr Aufbau sei genau axialsymmetrisch. Denn der erste und fünfte Satz sind Einleitung und (in Wahrheit nur Zwischen-) Zusammenfassung und der dritte macht „Turangalila“ zum Zentrum; er heißt so. In den Chants d’amour beginnen die Ondes Martenot das Liebesthema herauszuschälen. Sie sind ein auf dem Prinzip des Röhrengenerators beruhendes Klaviaturinstrument, das nur einstimmig gespielt werden kann. Ihr Klang erscheint „als eine Art ‚überexpressive Stimme‘“, sagt Messiaen, aber das ist es gerade, weshalb es so hart am Kitsch vorbeisegelt, besonders weil es für den Ausdruck der Liebe eingesetzt wird.

Die Liebe - es ist, als müsste sie sich von vielem, was sonst noch anfällt, erst nach und nach ihrer selbst gewiss werden. Doch kann der Eros überall leicht assoziiert werden. Da gibt es Zartheit und Wildheit, Tanz und Erschrecken, Blockade am Anfang wie Sturm und Drang am Ende. Der erste Gesang ist einem Rondo, der zweite einem Scherzo sehr entfernt ähnlich. Der „Turangalila“-Satz dazwischen scheint mit gar nichts zu korrespondieren. Er wird als „rhythmische Etüde“ apostrophiert, ungeachtet dessen, dass die anderen Sätze auch schon rhythmisch auffallend genug sind, so der vierte Satz / zweite Liebesgesang mit den „‘Vogelstil‘-Figurationen im Diskant des Solo-Klaviers“, die Schweizer in einer Tabelle auflistet (S. 31). Überhaupt ließe sich die ganze Symphonie auch als Klavierkonzert auffassen. Wodurch sich der „Turangalila“-Satz aber vor allem einprägt, ist eine schwere choralartige Melodie, die der Liebestollheit der sonstigen Sätze mit ganz anderem Ernst entgegentritt, als es das gleichsam offiziöse Statuen-Thema tut. Der fünfte Satz ist wie gesagt ein Semi-Finale. Dieser „Tanz der Freude“ rückt am Ende mit dem Statuen-Thema explizit heraus, hatte es aber von Anfang an im Sturm seiner Begeisterungen verborgen gehalten.

Im sechsten Satz, mit dem der zweite Teil der Symphonie beginnt, erklingt das Liebesthema erstmals in voll entwickelter Gestalt. Hier könnte man schon gleich seine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Gegenteil, dem Statuen-Themas bemerken. Instrumentierung, Drive und Tonfall sind so verschieden wie möglich, doch in der Melodie und im getragenen Zeitmaß verweisen sie aufeinander. Ja man könnte vom geteilten Pathos sprechen, käme der „Liebesgesang“ nicht so trivial und peinlich-privat daher. Eine Übereinstimmung liegt auch darin, dass beide der Komik nicht entbehren. Das Statuen-Thema belustigt nur in der Art, wie es sich am Anfang in die Brust wirft, das Liebesthema jedoch ist die ganze Zeit über komisch. Das hängt auch mit seiner Instrumentierung durch die Ondes Martenot zusammen. Ich denke, es liegt darin eine komische Distanz, die Messiaen nicht nur dem Tod, sondern auch dem Eros gegenüber wahrt. Überhaupt ist Komik ein besseres Wort als Witz. Tod und Eros sind hier in derselben Weise komisch, wie es bei Jean Paul die enge Menschenwelt ist, zum Beispiel des Schulmeisterleins Wutz, der sich nun eben nicht im Unendlichen bewegt, sondern im Endlichen - werden doch nicht nur hochfliegende Geister von der Liebe niedergebeugt. Das ist keine herabsetzende, sondern im Gegenteil eine selbst wieder sehr liebevolle Komik, denn Messiaen weiß, was auch Jean Paul wußte, dass er nicht über andere sondern über sich selber spricht.

Im sechsten Satz erscheint also erstmals das Liebesthema in seiner vollen Gestalt. Er ist ganz statisch als Basis der Entwicklungen, zu dem es im achten und zehnten Satz noch kommen soll. Statisch und sehr leise; ein Ruhepunkt. So hat auch der zweite Teil einen vollendet symmetrischen Aufbau; verwirrend ist aber seine Verklammerung mit dem ersten Teil durch die „Turangalila“-Sätze, derer er zwei weitere enthält, die in der Gesamtzählung die Nummern sieben und neun tragen. Alle drei treten irgendwie von außen dem zweiteiligen Tristan-Geschehen gegenüber. Für sich genommen scheinen sie durch das Thema Tod verbunden, aber Tod mehr in einem metaphysischen Sinn, „vor dem“ die Liebenden agieren, ohne sich dessen bewusst zu sein, während er als bedrohliches Statuen-Thema auch innerhalb des Eros-Geschehens präsent ist. Wie ich schon sagte, fällt der erste „Turangalila“-Satz durch eine ernste Choralmelodie auf. Der zweite betont das Negative mit seinem „furchterregende[n] Rhythmus“, so Messiaen, am meisten: „Jede Zeile endet mit einem unerbittlichen Schlag des Tamtam. Dies lässt an die beiden Schreckensbilder in Edgar Allan Poes berühmter Erzählung Der Abgrund und das Pendel denken: an Pendel in Messergestalt, die sich stetig dem Herzen des Gefangenen nähert; an die Tiefen des unbeschreiblich scheußlichen Folterverlieses...“

So schlimm sich das anhört, glaube ich doch, dass das Pendel weiter nichts als die Zeit symbolisiert, die sich nun eben nicht festhalten lässt. Sie endet immer mit dem Tod. Der schlimme Satz ist vor dem „Développment de l’amour“ einfügt, der seinerseits mit dem Statuen-Thema anhebt, als habe die irdisch erlebbare Angst vorab mit aller nur denkbaren kosmischen Bedeutung beschwert werden sollen. Die „Entwicklung“ selber kann sich aber, wie gesehen, von der Belastung lösen, so dass im folgenden dritten „Turangalila“-Satz alles Negative abgestreift ist. Das Konzept scheint zu sein, dass hier in vollendeter Sublimation nur reine Rhythmik übrigbleibt, in einem Satz, der vom Nichts handelt, vom vacabimus gleichsam, das Augustin ans Ende des Civitas Dei setzt. Messiaen: „Die Harmonien hängen [...] vollständig von der Rhythmik ab, da die Klänge nurmehr zur Kolorierung dienen, deren Zweck es ist, die quantitative bzw. phonetische Ordnung zu verdeutlichen.“ Wie er ausführt, hört man zum Beispiel „einen ‚rhythmischen Modus‘, der 17 Dauernwerte vermischt und die so entstandenen Folgen fünf verschiedenen Perkussions-Timbres in der Gleichzeitigkeit zuordnet: dem Holzblock, dem hängenden Becken, dem Maracas, der provencalischen Trommel und dem Tamtam.“

Wie soll man das alles nun kommentieren? Was unbedingt hervorgehoben werden muss, ist die offenkundige Vorbildfunktion für den Serialismus des Pierre Boulez, der bei Messiaen Kompositionsunterricht genommen hat. Die Verdeutlichung rhythmischer Muster durch ungewöhnliche, nicht zuletzt auch „asiatische“ Klänge findet sich etwa in Le marteau sans maître. Vor allem indes die Emanzipation der Rhythmik als solche, die ich in einem früheren Text als entscheidend für die Entwicklung des seriellen Kompositionsverfahrens herausgestrichen habe, setzt ganz offenkundig eine bei Messiaen beginnende Linie fort, der seinerseits von Strawinsky gelernt hat. Messiaen und Boulez unterscheiden sich aber dadurch, dass der Erste seine komplizierte Rhythmik nach dem Gefühl erfindet und sich, um dieses zu übersteigen, allenfalls noch vorgefundener Muster bedient, wie der Vogelstimmen und der indischen Tala-Metren, während der Zweite rechnet und so zu völlig inkommensurablen Abläufen gelangt. (Messiaen hat zwar das erste als seriell geltende Stück geschrieben, für ihn war es aber nur ein Experiment, das er nicht weiter verfolgte: die Klavieretüde Mode de valeurs et d’intensités, 1949.) Die hiermit skizzierte Genealogie der seriellen Rechnerei zeigt jedenfalls, dass wir es mit keiner leeren Artistik zu tun haben. Boulez ist alles andere als ein gläubiger Katholik, und doch setzt seine Musik die Messiaensche auch inhaltlich fort – indem er sie ins Gegenteil verkehrt. Sie ist existenzialistisch. Nach allem was zu hören war, hat er eine Beckett-Oper komponieren wollen, Warten auf Godot; leider ist es nicht dazu gekommen.

In der letzten Folge will ich mich mit der Hauptschwierigkeit befassen, die hervorgetreten ist: dass sich in der Turangalila-Symphonie so viele Organisationsprinzipen überlagern. Sie wird dadurch im Wortsinn unfassbar.

Zum Teil I / zum Teil III

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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