Bis zum Zinsschock: Die unerträgliche Leichtigkeit der Inflation
Inflation Die Zinswende führt in Schwellenländern zu krassen Verwerfungen. Haben wir aus vergangenen Schuldenkrisen denn gar nichts gelernt? Der Ökonom Michael Krätke über eine drohende Krise
Wenn die Zinsen steigen, gehen viele Anleihen den Bach runter
Foto: Harold M. Lambert/Getty Images
Inflation – sie ist des einen Leid, des andern Freud. Steigen die Preise, wird das Geld immer weniger wert. Dabei verlieren viele und gewinnen einige – die Schuldner. Für alle, die hohe Schulden haben, brechen goldene Zeiten an. Denn im Idealfall könnte man sich über einen längeren Zeitraum regelrecht entschulden, weil eine kräftige Inflation den Wert von Hypotheken und Staatsanleihen dahinschmelzen lässt.
Wenn dann noch Wachstum dazu kommt, nimmt der Schuldenstand eines Landes ab: also das Verhältnis von Staatsverschuldung zum Bruttoinlandsprodukt. So erklärt sich, dass die Staatsschulden zwischen 2020 und 2022 in fast 65 Prozent aller Länder gesunken sind. In den am meisten entwickelten Ländern sank die Staatsschuldenquote im s
quote im selben Zeitraum im Schnitt um sechs Prozent.Je höher die Inflation, desto besser für die Schuldner. Wären da nicht die Zinsen. Wenn die Inflation trabt, sinken die Realzinsen ins Bodenlose. Gläubiger, voran die Banken, dringen auf rasche Erhöhung der Nominalzinsen. Da trifft sich das Gläubigerinteresse mit dem auch bei Zentralbankern weit verbreiteten Irrglauben, jede Inflation könnte per Zinserhöhung bekämpft werden. Um die Wette erhöhen die Zentralbanken ihre Leitzinsen, weil ihnen die Kapitalbesitzer im Nacken sitzen. Wer keine massive Kapitalflucht riskieren will, muss die Zinsen mindestens so rasch erhöhen, wie die Inflationsrate steigt. Und womöglich schneller als die Konkurrenz.Eine anhaltend hohe Inflation kann so auch für die Schuldner rasch ungemütlich werden. Ein regelrechter Zinsschock trifft die, die ihre Schulden üblicherweise nicht zurückzahlen, sondern mit neuen Schulden refinanzieren, also Banken und Staaten. Ebenso wie diejenigen, die neue Kredite aufnehmen oder alte verlängern wollen und die Zinslasten nicht mehr stemmen können. Eine drastische Erhöhung der Leitzinsen kann eine regelrechte Wirtschaftskrise auslösen, im Kern eine Schuldenkrise. Derlei gab es schon.Im Sommer 2022 sorgte Ayhan Kose, ein führender Weltbank-Ökonom, für Aufregung. Er befürchtete eine Wiederholung der Schuldenkrisen der 1980er-Jahre. Hohe Inflation und schwaches Wachstum, dazu die schnelle Anhebung der Leitzinsen durch die Zentralbanken werde die bereits hoch verschuldeten Schwellenländer in eine prekäre Schieflage bringen. Verschärft durch hohe Rohstoff- und Energiepreise, Lieferengpässe und steigende Transportkosten im Gefolge von Coronapandemie und Ukrainekrieg. Die nächste Schuldenkrise sei im Anzug, eine Periode der Stagflation stehe bevor.Kose erinnerte an den Ausgang der Krise, die 1971 mit dem Kollaps des Bretton-Woods-Systems begann. Auf mehrere Ölpreisschocks und eine anhaltend hohe Inflation reagierte die US-Notenbank mal mit Zinserhöhungen, mal mit Zinssenkungen. Paul Volcker, der neue Chef der Fed, entschied sich für eine Schockstrategie: Er hob die US-Leitzinsen in einem Zeitraum von nur zwei Jahren zwischen 1979 und 1981 auf über 20 Prozent. Der darauf folgende sogenannte Volcker-Schock verursachte mehrere Pleitewellen und zeitweilig hohe Arbeitslosigkeit in den USA. Die übrigen Industrieländer folgten und die Zinsen für internationale Anleihen wurden ebenfalls hochgeschraubt.Zu nah an AmerikaDie armen Länder, damals noch Entwicklungsländer genannt, die zuvor mit billigen Krediten überschwemmt worden waren, stürzten in eine langwierige Schuldenkrise. Mexikos Finanzminister Jesus Silva Herzog erklärte im August 1982, sein Land könne die Zinsen und Tilgungsraten auf die Auslandsschulden von rund 85 Milliarden US-Dollar nicht mehr zahlen. Er löste eine weltweite Finanzkrise aus, denn viele Länder, darunter Brasilien, Argentinien, Chile, Polen, Zaire, Indonesien, Südkorea, folgten dem Beispiel Mexikos und erklärten sich für zahlungsunfähig.Ein Desaster, denn der Schuldenberg der Dritten Welt hatte sich auf 700 Milliarden Dollar aufgetürmt, pro Jahr waren Zinsen und Tilgungen von über 130 Milliarden Dollar fällig. Die Gläubigerbanken organisierten mit dem IWF immer neue Überbrückungskredite, um die Zahlungsrückstände der Entwicklungsländer auszugleichen. Womit deren Schuldenlast immer weiter anstieg. Bis Ende 1991 standen die hochverschuldeten Länder allein beim IWF mit fast 1.500 Millarden Dollar in der Kreide, während die Preise für Rohstoffe, mithin ihre Exporterlöse, immer weiter verfielen. Aus dem globalen Norden kam unverdrossen die Parole „Wachstum, Wachstum, je mehr, desto besser“. Aus den Schulden herauswachsen, mit Hilfe immer neuer Kredite. Das konnte nicht funktionieren. Ein Schuldenerlass war der einzige Ausweg. Anfang der 1990er-Jahre wurde damit halbherzig begonnen. Kaum 30 Milliarden Dollar betrugen die effektiven Schuldennachlässe – und bei jeder noch so kleinen Erleichterung machte der IWF knallharte Sparprogramme zur Auflage, in der Regel zu Lasten der Sozialhaushalte.Nicht die Schuldner, sondern die Gläubiger wurden vor der Pleite gerettet. Und gebannt war die Schuldenkrise keineswegs. In den 1990er-Jahren ging es erst richtig los, die kapitalistische Welt wurde von einer regelrechten Serie von Finanzkrisen erschüttert. Sie begann in Mexiko 1994, steigerte sich zur Asienkrise 1997, der die Russlandkrise 1998 und die Türkeikrise im gleichen Jahr folgten, 1999 die Brasilienkrise, 2000/01 die Argentinienkrise. Ein Fünftel bis ein Viertel des Sozialprodukts dieser Länder ging verloren – in Argentinien bis zu 60 Prozent –, die Bevölkerung verarmte massiv. Wieder wurden mit Notkrediten die Gläubiger, international operierende Banken und Finanzinvestoren, gerettet. Und diesmal trafen die Schuldenkrisen nicht nur die ärmsten Länder, sondern auch die sogenannten Schwellenländer.Von der Asienkrise wurden auch die damals hochgepriesenen „kleinen Tigerstaaten“ voll erwischt. Fast gleichzeitig mit der Argentinienkrise platzte die New-Economy-Blase in den reichen Industrieländern. Es war die erste große Finanzkrise seit dem Ende des Bretton- Woods-Systems, diesmal waren auch die USA und viele andere Industrieländer in Europa und Asien betroffen. Hunderte von Milliarden Dollar an Krediten und „Finanzwerten“ gingen in Rauch auf. Was die Herren der Finanzmärkte nicht daran hinderte, mittels zahlreicher „Finanzinnovationen“ den Spielraum ihrer Geschäfte immer weiter auszudehnen. Wenige Jahre später platzten die nächsten Blasen und die Banken und Finanzinstitute fielen reihenweise, diesmal weltweit.Mit der Finanzkrise von 2008/09 geriet die gesamte Finanzwelt an den Rand des Zusammenbruchs. In allen kapitalistischen Ländern eilten die Regierungen mit Steuermilliarden zu Hilfe, die Zentralbanken kooperierten in einer nie dagewesenen Weise. Es gelang, den Kollaps des gesamten Systems zu vermeiden und die große Krise auf viele kleine Krisen herunterzubrechen. Die sogenannte Griechenlandkrise war nur eine von vielen, in denen die Gläubiger den Schuldner Mores lehrten. Nur dass sich das sattsam bekannte Drama nun mitten in Europa abspielte, zwischen Ländern, die alle Vollmitglieder der EU mit gleichen Rechten und Pflichten waren. Das Porzellan, das damals mutwillig und unsinnig zerschlagen wurde, vor allem auch von deutscher Seite aus unter Finanzminister Wolfgang Schäuble, ist noch lange nicht aufgekehrt.Nach gängiger Lesart haben wir, das heißt unsere Eliten, die Lektionen der letzten großen Finanzkrise gründlich gelernt. Fortan sollte alles anders sein, nie mehr werde der Staat marode Banken stützen oder retten müssen. Neue Regularien sollten das internationale Bankensystem krisenfest machen. Dem ist nicht so. Trotz einiger Korrekturen: Die Chance zu einer Neuordnung des Finanzsektors wurde vertan.Jetzt ist die Angst vor der nächsten Schuldenkrise zurück. Die drohenden Bankenpleiten in den USA und Europa wurden nach altem Muster bewältigt. Einige US-Banken gingen Pleite, aber der Schaden wurde durch rasches Eingreifen von Regierung und Zentralbank begrenzt. So auch in der Schweiz, wo per Notfallregelung die Fusion der schwer angeschlagenen Credit Suisse mit der UBS erzwungen wurde. Mit Milliardenverlusten für die Aktionäre der Credit Suisse und staatlichen Finanzhilfen in Höhe von rund 10 Milliarden Franken für die UBS. Der Konkurs einer „systemrelevanten“ Großbank wie der Credit Suisse hätte einen europaweiten Run auf die Banken auslösen können.Türkei, China: Faule KrediteDoch nun werden die Karten neu gemischt. Die kommenden Schuldenkrisen sind hausgemacht. Beispiel Türkei: Die Unternehmen des Landes haben hohe Auslandsschulden, die sie in Dollar bedienen müssen, die Inflation galoppiert und der Kurs der Lira verfällt mit jedem Tag. Eine Pleitewelle droht, für die hoch verschuldeten türkischen Unternehmen wie für ihre ausländischen Gläubiger. Viel Spielraum für Rettungsaktionen hat der türkische Staat nicht. Weil die USA ihre Leitzinsen als Erste kräftig erhöht haben und sie weiter erhöhen, steigt der Kurs des Dollars. Also stecken die zahlreichen Schuldner überall auf der Welt, die ihre Kredite in Dollar bedienen müssen, in der Klemme. Je höher die Zinsen in den USA, je höher der Dollarkurs, umso untragbarer werden die Schuldenlasten für Staaten und Unternehmen, insbesondere in den Ländern des globalen Südens.China hat ein anderes Problem: Hausgemacht ist die weiter schwelende Immobilienkrise. Eine soziale und ökonomische Krise ersten Ranges, weil das Ende des Baubooms die chinesische Wirtschaft ebenso wie die urbane Mittelklasse im Kern trifft. Dazu kommen die gigantischen Kredite, die China an eine Vielzahl von Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika vergeben hat. Großzügig, aber mit knallharten Konditionen, die in der Regel nur Eingeweihten bekannt waren. Eine rasch wachsende Zahl Schuldner kann die Last dieser Auslandsschulden nicht mehr tragen und drängt auf Neuverhandlungen beziehungsweise Schuldenerlass. China ist also mit einer enormen Summe an faulen Auslandskrediten und Zahlungsausfällen konfrontiert.Für die Europäer und Amerikaner gilt: Hoch verschuldet sind sie alle, Staaten wie Privatleute. Dazu kommt das Zinsrisiko, das fast in Vergessenheit geraten war. Wenn die Leitzinsen rasch und immer weiter erhöht werden, werden festverzinsliche Anleihen, die in den Zeiten der Niedrigstzinsen gekauft wurden, blitzschnell entwertet. Das gilt natürlich auch für Staatsanleihen, auf die die Banken noch immer als stabilste und sicherste Geldanlage setzen. Plötzlich verschwinden Hunderte von Milliarden aus den Bilanzen, weil der Marktwert dieser Anleihen abnimmt. Jederzeit, schon beim nächsten Zinsschritt, kann es zum Bankrott etlicher Großbanken kommen, deren Staatsanleihen über Nacht nichts mehr wert sind.Die Fed zeigt sich relativ unbeeindruckt, auch wenn viele Beobachter davon ausgehen, dass sie ihre Zinserhöhungen bald einstellen muss; die EZB hat immerhin das Tempo ihrer Zinssteigerungen etwas gemäßigt, scheint es aber bereits wieder anzuziehen, weil ihr partout kein anderes Mittel gegen die Inflation einfallen will. Von unseren ökonomisch unbedarften Eliten können wir leider nicht mehr als überstürzte und undurchdachte Panikreaktionen erwarten. Der nächste Schock, die nächste Schuldenkrise kommen bestimmt. Zurück zur Niedrigzinspolitik, schwenkt um, Marsch – das wäre ein Gesichtsverlust für unsere politische Klasse. Aber jetzt einzugestehen, dass man die Inflation mit den falschen Mitteln bekämpft hat: Wer hat den Mut dazu?Placeholder authorbio-1