Es ist schlichtweg falsch, die Demokratische Fortschrittspartei (DDP) als die allein demokratische Partei Taiwans hinzustellen und den Wahlsieg des DDP-Bewerbers Lai Ching-te als Triumph der Demokratie zu feiern. Im Umkehrschluss hieße das, die Kuomintang-Partei sei weniger demokratisch, was nicht zutrifft. Sie war 1992 auf einen Konsens mit Peking bedacht, indem sie die Idee aufgab, sich mit dem Festland durch eine Rückeroberung wiedervereinigen zu wollen. Ein absurdes Ansinnen, das mit den Kräfteverhältnissen und der weltweit verfolgten „Ein-China-Politik“ kollidierte. Seither setzt die Kuomintang auf Koexistenz und einen langfristig angelegten, friedlichen Zusammenschluss mit der Volksrepublik, die (bis auf zwölf Staaten) von der internationalen Geme
emeinschaft als das allein legitime China anerkannt wird, auch von den USA und der EU.Die Unabhängigkeit Taiwans steht nicht im DDP-ProgrammEs ist deshalb wenig nachvollziehbar, wenn in Deutschland der Wahlausgang als Entscheidung gegen China, gegen eine Wiedervereinigung und für die Unabhängigkeit Taiwans gedeutet wird. Letztere ist als Ziel weder in der taiwanesischen Verfassung noch im Parteiprogramm der DDP zu finden. Auch der künftige Staatschef wird an diesem Status quo nicht rütteln. Vor der Abstimmung wurde Lai Ching-te in den chinesischen Medien als gefährlicher Separatist gesehen, danach klang das schon deutlich moderater.Nicht allein die wirtschaftliche Verflechtung mit dem Festland begünstigt in Taipeh ein Bewusstsein für die Risiken, sollte eine eventuelle Souveränität vorangetrieben werden. Auch die engsten Verbündeten machen keinerlei Anstalten, von der „Ein-China-Politik“ abzurücken und wieder diplomatische Beziehungen mit Taiwan aufzunehmen, um die mit China aufzugeben.Xi Jinpings Politik der NadelsticheBei der Frage, wie eine Wiedervereinigung wann aussehen könnte, hat sich Staats- und Parteichef Xi Jinping mutmaßlich unter Zugzwang gesetzt mit der oft wiederholten Andeutung, man werde diese notfalls erzwingen. Was nicht heißt, wie das in Deutschland häufig angenommen wird, China werde Taiwan nach dem Muster des russischen Krieges gegen die Ukraine angreifen. In Wirklichkeit gönnt sich die chinesische Führung einen flexiblen Zeitrahmen, der einer Politik der Nadelstiche (Cyberattacken und Marinemanöver) ebenso Raum gibt wie einer Verständigung unter Friedfertigen. Freilich hat die Formel „ein Land – zwei Systeme“ an Strahlkraft verloren, seit in Hongkong die Opposition knallhart stillgelegt wurde.Macau könnte als Muster für eine gelungene Integration eines vormals geschiedenen und kolonisierten chinesischen Terrains dienen, würde der Umgang mit Hongkong nicht abschreckend wirken. Dennoch kann China kein Interesse an einem Krieg um Taiwan haben. Dazu sind die wirtschaftlichen Beziehungen zu eng, auch wenn der kommende Präsident Lai angedeutet hat, er wolle Taiwans Ökonomie mehr in Richtung Südostasien orientieren und die Abhängigkeit von China verringern. Angesichts der enormen Konkurrenz aus Japan, Südkorea und neuerdings Vietnam wird das dauern.China hat verlauten lassen, dass es die zahlreichen Handelsvorteile, die es Taiwan gewährt, auch wieder zurücknehmen oder einschränken könne. Das dürfte den zahlreichen taiwanesischen Firmen, die auf dem Festland produzieren und dort gute Gewinne machen, kaum gefallen. China ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner für Taiwan und dürfte es auf absehbare Zeit bleiben.