Warum UN-Generalsekretär António Guterres zum Nahostkonflikt diese Worte wählte
Porträt António Guterres war schon in Portugal dafür bekannt, über alles Mögliche unaufhörlich reden zu können. Die jüngsten Einlassungen des UN-Generalsekretärs zu Israel und Palästina hat er sicher nicht ohne Bedacht gewählt
Er ist glühender Katholik, früher trafen sich im Hause Guterres Männer zum Gottesdienst, die heute höchste Ämter in Portugal bekleiden
Foto: Imago/UPI Photo
Am 24. Oktober hält António Guterres seine Rede anders als üblich nicht frei, sondern liest vom Blatt. Die Worte vor dem UN-Sicherheitsrat sagen nahezu so viel darüber aus, wer Guterres heute ist, wie die 2022 erschienene 386-Seiten-Biografie Honest Broker (deutsch: „Ehrlicher Vermittler“). Der UN-Generalsekretär, 74, setzt mit einer fast unverbindlichen Tatsachenbeschreibung an: „Die Lage im Nahen Osten spitzt sich immer weiter zu. Der Krieg in Gaza eskaliert und droht, sich in der Region auszuweiten. Spaltungen führen zu einer Zersplitterung der Gesellschaften, Spannungen drohen zu explodieren.“ Wer könnte da widersprechen?
Der portugiesische Intellektuelle Vasco Pulido Valente verpasste Guterres in den 1990ern einen sich bis heut
en.“ Wer könnte da widersprechen?Der portugiesische Intellektuelle Vasco Pulido Valente verpasste Guterres in den 1990ern einen sich bis heute haltenden Beinamen: Picareta falante, „sprechende Spitzhacke“ – weil der traurig lächelnde Brückenbauer aus dem selbst proklamierten „Land der sanften Sitten“ über alles Mögliche unaufhörlich reden kann. Die Portugiesen haben ihn als Meister des Dialogs in Erinnerung. Aber auch als Koryphäe der Konspiration, die sogar Mário Soares, den mit – fast – allen Wassern gewaschenen Übervater der Demokratie in Portugal, austrickste, um die Führung des Partido Socialista zu übernehmen.Nachhilfelehrer in den Slums von LissabonAn diesem Oktobertag in New York ist es mehr als 20 Jahre her, seit Guterres seinen Job als Regierungschef schmiss, weil Portugal „unweigerlich in einem politischen Sumpf“ unterzugehen drohte, und sich aufmachte, die Welt zu retten. Er hebt den Zeigefinger: „In einer entscheidenden Zeit wie dieser ist es wichtig, klare Grundsätze zu haben, angefangen mit dem Grundprinzip des Schutzes und der Achtung der Zivilbevölkerung.“Guterres weiß, wovon er redet, wenn er über eine schutzbedürftige Zivilbevölkerung spricht. Der einstige Präsident der Sozialistischen Internationale, ein Netzwerk, das seine internationale Karriere aktiv förderte, ging nach dem Ende seiner Zeit als Premierminister 2002 zuerst in die Slums von Lissabon. Der Elektroingenieur, Bester seines Jahrgangs, gab dort sporadisch Nachhilfeunterricht in Mathematik, die Presse berichtete, vielfach und bewundernd.Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten NationenZehn Jahre lang, bis 2015, war er dann Hoher Flüchtlingskommissar der UN, erlebte schwerste Flüchtlingskrisen, die Folgen des US-geführten Angriffskriegs gegen den Irak, der Kriege im Jemen oder in Afghanistan. Die meiste Zeit verbrachte Guterres in Genf, bei Empfängen und Essen mit Vertretern der Geberländer und privaten Spendern. Unter seiner Ägide avancierte Europa auf Augenhöhe mit den USA zur Finanzstütze der UN-Flüchtlingshilfe; verstärkt traten arabische Ölstaaten als Spender auf.Bei all dem, vor allem aber bei seinem Auftreten jetzt gegen Ende seiner Karriere, darf man davon ausgehen, dass Guterres’ Antrieb seine moralischen und religiösen Überzeugungen sind. Auch mehr als 50 Jahre nach den privaten Gottesdiensten mit Jugendfreunden wie dem heutigen Staatspräsidenten Portugals, Marcelo Rebelo de Sousa, im Hause Guterres unter Anleitung eines Franziskaners ist er glühender Katholik; ein Mystiker, spirituell und tiefgläubig, sagt einer der Biografen.Das UN-Generalsekretariat und der Nahost-KonfliktVielleicht, spekuliert ein alter katholischer Weggenosse, der wegen seines höchsten Amtes in Portugal nicht genannt werden möchte, kennt Guterres schlichtweg die diplomatische Wirkungslosigkeit des UN-Generalsekretariats im Nahost-Konflikt. Also nimmt er sich, inmitten seines zweiten, bis 2026 laufenden Mandats die volle Freiheit für seinen Gerechtigkeitssinn und seine Perspektive heraus – eine Perspektive, die wie bei Russlands Krieg gegen die Ukraine auf Widerspruch im Westen trifft und Guterres deshalb aus dem Spiel nimmt für die Rolle eines Vermittlers.Schon in der zweiten Redeminute in New York, nach der Verurteilung der „schrecklichen und beispiellosen Terrorakte“ der Hamas, setzt er an zum Frontalangriff auf Israel – oder zur kompromisslosen humanitären Verteidigung der Palästinenser, je nach Perspektive. „Nicht im luftleeren Raum“ hätten diese Angriffe stattgefunden, seit 56 Jahren sei das palästinensische Volk „erstickender Besatzung ausgesetzt“. Absichtlich und beidfüßig tritt der UN-Generalsekretär in alle Fettnäpfchen des diplomatischen Umgangs mit Israels Politik der vergangenen Jahrzehnte. Der „ehrliche Vermittler“ ist ehrlich genug, seinen Mitarbeitern zu gestehen, dass es für ihn und die UN ab dieser Rede definitiv nichts mehr zu vermitteln gibt. Einer der Autoren seiner Biografie sagt: „Guterres ist ein rationaler, fast schon kalter, kalkulierender Politiker.“Israels UN-Botschafter fordert Guterres-RücktrittDass Israel den zwei Dritteln der in den UN versammelten Staaten, die einen Waffenstillstand fordern, so viel Gehör schenken würde wie Russland einer Resolution mit ähnlicher Mehrheit, die den Rückzug aller Truppen aus der Ukraine fordert, war abzusehen. Die wütende Rücktritts-Forderung des israelischen UN-Botschafters wird Guterres nicht überrascht haben.Es ist, fast, eine Win-win-Situation. Für Israel ist der Bruch mit Guterres und der UN aus praktischen Gründen willkommen, ein Störfaktor weniger. Und der UN-Generalsekretär selbst kann guten Gewissens warnen, der Welt drohe der Untergang, um sich bald wieder voll für den Klimaschutz einzusetzen: Ende November beginnt die 28. UN-Klimakonferenz, in den Vereinigten Arabischen Emiraten.
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