Man kann das übliche Lamento anstimmen und beklagen, dass die EU durch inneren Zwist zwischen Mitgliedsstaaten international an Relevanz verliert. Nimmt man die vom jüngsten Gipfel verabschiedete Gaza-Erklärung, ist die gewiss ein Kompromiss, der Differenzen über den israelischen Militäreinsatz spiegelt – nicht überspielt. Gereicht das dem Staatenbund wirklich zum Nachteil? Warum sollte man bei einem solchen Konflikt und seinen Weltgewissen wie Weltzustand streifenden Ausläufern nicht geteilter Meinung sein?
Gaza-Resolution mit Zwei-Drittel-Mehrheit
Wenn die Auffassung Spaniens, Belgiens, Luxemburgs und Irlands klar hervortritt – es sollte sofort eine Feuerpause geben, weil das palästinensische Volk nicht in Kollektivhaft genommen werden da
Zwei-Drittel-MehrheitWenn die Auffassung Spaniens, Belgiens, Luxemburgs und Irlands klar hervortritt – es sollte sofort eine Feuerpause geben, weil das palästinensische Volk nicht in Kollektivhaft genommen werden darf – legt das für die EU in Gänze Ehre ein. Immerhin steht dahinter die Frage, ob die Regierung Benjamin Netanjahu gut beraten ist, ihr Heil in einer brachialen Kriegsführung zu suchen. Je mehr Opfer dies fordert, je furchtbarer Menschen sterben, desto irreversibler sind die Folgen für ein Koexistieren zwischen Israelis und Palästinensern. Und was sonst sollten sie absehbar tun als eben das?Hätten sich alle EU-Staaten dazu durchgerungen, wie die genannten Mitglieder auf das humanitäre Völkerrecht zu pochen, wäre das für die EU aus drei Gründen ratsam gewesen. Dies hätte den Erwartungen an einen Friedensnobelpreisträger entsprochen, als der sie 2012 ausgezeichnet wurde. Es wäre dem Ansehen im Globalen Süden zugute gekommen, um den man seit geraumer Zeit ringt. Immerhin hat diese Staatengruppe soeben mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit (120-mal Ja, auch Frankreich stimmte zu, Deutschland enthielt sich) für eine Gaza-Resolution der UN-Vollversammlung gesorgt. Sie enthält ein klares Votum für eine Waffenruhe und den Schutz der Zivilbevölkerung. Drittens wäre durch mehr Nähe der Brüsseler Erklärung zu diesem Appell der Eindruck vermieden worden, allzu sehr auf die USA fixiert zu sein.Die Kritik an Ursula von der LeyenDie Europäische Union wird häufig deshalb als eigenständiger Akteur verkannt, weil sie keine eigenständigen Positionen vertritt. Und sage niemand, Resolutionen der Vollversammlung seien von geringerem Wert als die des Sicherheitsrates. Ging es um den Ukrainekrieg, fühlte sich die EU bei den gegen Russland gerichteten Mehrheiten dieses Forums stets gut aufgehoben.Eine kohärente Nahostpolitik schuldig zu bleiben, ist gerade jetzt kein Makel. Schließlich geraten derzeit nicht nur EU-Regierungen aneinander. Es kommen sich ebenso EU-Funktionäre in die Quere. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ließ nach dem 7. Oktober, dem Tag des Hamas-Angriffs, die israelische Flagge auf das Kommissionsgebäude projizieren, reiste nach Israel und versprach Benjamin Netanjahu vorbehaltlose Unterstützung – im Namen der EU.Charles Michel und Josep Borrell im DuoEine nicht abgestimmte Reise, auf der nicht abgestimmte Erklärungen abgegeben wurden, Außenpolitik dieses Kalibers in einer derart brisanten Situation zähle nicht zu den Aufgaben der Kommissionspräsidentin, monierten sowohl EU-Ratspräsident Charles Michel wie der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Von der Leyen, die sonst gern vorprescht, wurde selten so laut zurückgepfiffen.Eine Welt der Kriege wehte in die Brüsseler Blase. Eine Welt, in der die EU dem Irrglauben erliegt, ihr mit Lagerdenken und westlicher Geltungsmacht gewachsen zu sein. Dies führt zur Flucht aus der Verantwortung gegenüber der eigenen Bevölkerung. Womit der Verlust an Relevanz unausbleiblich ist.