Im Angesicht der Krisen: Wo soll das noch hinführen?
Ukraine- und Gaza-Krieg Krieg in der Ukraine, jetzt das Aufflammen des Nahostkonfliktes: Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte, dass eine Doppelkrise weitere Konflikte verstärkt. Eine Analyse aktueller Krisenherde in Bezug auf die politische Weltordnung
Ukrainische Soldaten bei einer Übung in der Oblast Tschernihiw, 13. Oktober 2023
Foto: Gleb Garanich/Reuters/dpa
Joe Biden hat einen Zusammenhang zwischen dem Gaza-Krieg und dem Ukraine-Krieg hergestellt: Beide Male versuchten tyrannische Kräfte, eine Demokratie auszulöschen, doch schon Thomas Jefferson, ein Gründungsvater der USA, habe diesen neuen Staat als „Leuchtfeuer für die Welt“ bezeichnet und deshalb stehe man heute sowohl der Ukraine als auch Israel militärisch bei. Glaubt der amerikanische Präsident noch selbst an seine brüchige Weltsicht? Er will doch nur innenpolitisch punkten: den Widerspruch unterstreichen, dass Militärhilfe für die Ukraine, nicht aber für Israel von den Republikanern als Geldverschwendung abgelehnt wird. Dieser Streit wird im Hintergrund von Donald Trump orchestriert, der schon versucht hat, die US-Demokrati
atie abzuschaffen. Es ist mehr als schräg, sich ausgerechnet in diesem Kontext auf die USA als Anführer im Kampf um die weltweite Demokratie zu berufen.Wir sehen einen ganz anderen Zusammenhang: Der Ukraine-Krieg ist ein Riss in der weltpolitischen Ordnung, der mit der Zeit immer gefährlicher wird, weil er dazu ermutigt, in seinem Gefolge andere Feindschaften militärisch auszutragen, die sich sonst nicht hervorgetraut hätten. So ist es zum Gaza-Krieg kaum zufällig gerade jetzt gekommen, denn die Hamas konnte damit rechnen, dass es für die USA schwierig sein würde, Israel und die Ukraine gleichzeitig militärisch zu unterstützen. Das konnte man auch schon in der Zeitung lesen: Die EU müsse jetzt mehr tun im Krieg vor ihrer Haustür. Die USA blieben der Anführer, doch seien sie auch anderswo gefordert. Anführer eines Kampfes für Demokratie? Gewiss, aber auch einer Koalition des Westens, die überhaupt nicht versucht, jenen Riss zu heilen, sprich: russisch-ukrainische Friedensverhandlungen herbeizuführen –sondern die mit aller Kraft daran arbeitet, dass die Wunde sich nicht schließen kann. Sie tut das durch die Lieferung immer schwererer Waffen, obwohl jede(r) sehen kann, dass bereits eine Situation besteht wie einst in Verdun. Die Koalition nimmt die Gefahr in Kauf, dass immer mehr Trittbrettfahrer des Ukraine-Kriegs hervortreten und ihr Süppchen kochen – als wüsste sie nicht, dass sich solche Brandherde zum Weltkrieg verketten können!Dass im Schatten größerer Konflikte kleinere ausgetragen werden, ist aus der Geschichte bekannt. So konnten sich die USA nur gründen, weil ihre Unabhängigkeitserklärung am 4. Juli 1776 in die Zeit einer epochalen Auseinandersetzung zwischen England und Frankreich um die Hegemonie in der damaligen Welt fiel, die im Siebenjährigen Krieg begonnen hatte und erst mit dem Sieg über Napoleon enden sollte.Ein zeitlich näheres Beispiel ist die „Doppelkrise“ 1956: Ungarn-Aufstand gegen die Sowjetunion hier, Suezkrise da, in der Israel, England und Frankreich Ägypten angriffen, weil dessen Präsident Gamal Abdel Nasser den Suezkanal verstaatlicht hatte. Diese beiden Krisen befeuerten sich gegenseitig, weil jene Westmächte glaubten, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit würde sich mehr auf Ungarn als auf Ägypten fokussieren, während umgekehrt für Nikita Chruschtschow, den mächtigen Mann der Sowjetunion, die Militäraktion gegen Ägypten den letzten Anstoß dazu gab, den ungarischen Aufstand mit Truppen niederzuschlagen. Denn, so wird er zitiert, in so einer weltpolitischen Lage dürfe man keine Schwäche zeigen.Aktuelle VorgeschichteDa sehen wir aber auch den großen Unterschied zwischen 1956 und heute: 1956 war die Weltordnung ziemlich stabil, die USA konnten den Angriff gegen Nasser schlicht verbieten, und dessen Angreifer zogen sich zurück. Anders ist auch, dass der Westen sich damals mit linken arabischen Führern auseinandersetzte, mit denen man ebenfalls Verträge schließen konnte oder hätte schließen können. Auch der palästinensische Widerstand war damals links, angeführt von Jassir Arafat, der das Existenzrecht Israels anerkannte. Heute hat es der Westen mit extrem rechten Kräften wie der Hamas zu tun, einer islamistischen Organisation, die sich nie von ihrem hitlerischen Gründungskontext emanzipiert hat. Eine Einigung Israels mit der Hamas ist gar nicht vorstellbar, von beiden Seiten aus nicht.Übrigens hatte der Angriff der Hamas auf Israel eine aktuelle Vorgeschichte. Noch am 27. September, zehn Tage davor also, legte die FAZ sie dar: „Die Spannungen an der Grenze zu Gaza nehmen seit mehr als einer Woche immer stärker zu.“ Israel hatte angekündigt, „den Grenzübergang Erez ‚aus Sicherheitsgründen‘ für etwa 17.000 palästinensische Arbeitskräfte zu schließen. Viele der mehr als zwei Millionen Bewohner Gazas, die größtenteils in Armut leben, werden davon empfindlich getroffen. Auf das Einkommen aus Israel sind sie teils existenziell angewiesen.“ „Außerdem verstärkte das israelische Militär seine Truppen an der Grenze.“ Daraufhin kam es dort zu Demonstrationen, Brandsätze wurden geworfen und Brandballons nach Israel geschickt. Und dann handelte die Hamas. Die FAZ konnte an jenem Tag schon berichten, dass Hamas-Vertreter mit anderen palästinensischen Organisationen Kontakt aufgenommen und man sich darauf geeinigt habe, „die Sicherheitslage weiter zu eskalieren und gewaltsame Aktionen gegen Israel fortzusetzen“.Da dies auch in Israel bekannt gewesen sein muss, stellt sich die Frage, ob der israelische Geheimdienst vom terroristischen Hamas-Überfall am 7. Oktober so völlig überrascht gewesen sein kann, wie unsere Zeitungen bedenkenlos kolportieren. Weiter gehende Fragen wage ich hier gar nicht zu stellen. Im Guardian wurde jetzt spekuliert, dass Israel womöglich eine ethnische Vertreibung der in Gaza lebenden Palästinenser plant. Seit wann? Seit ein paar Tagen erst? Sollte etwa auch Israel eine günstige Gelegenheit sehen, im Schatten des Ukraine-Kriegs Dinge zu tun, die es sich sonst nicht trauen könnte? Man vergesse nicht den außergewöhnlichen Charakter der aktuellen israelischen Regierung.Aber nicht nur die Hamas und vielleicht Israel haben den Ukraine-Krieg ausgenutzt, sondern vorher auch Aserbaidschan. Für die in Bergkarabach lebenden Armenier war Russland immer Schutzmacht. Vor drei Jahren erst vermittelte es einen Frieden zwischen Aserbaidschan und seinem abtrünnigen Landesteil. Jetzt aber griffen dort stationierte russische Soldaten nicht ein, als Aserbaidschan in Bergkarabach einmarschierte. Russland braucht ja die zentralasiatischen Staaten, darunter Aserbaidschan, um die westlichen Sanktionen wegen des Ukraine-Kriegs umgehen zu können.Und wie der Ukraine-Krieg den Gaza-Krieg begünstigte, so hat dieser jetzt schon weitere Folgen. Die Türkei baut ihre Stellungen in Syrien aus, und wenn die Hisbollah – die den Libanon kontrolliert wie die Hamas den Gazastreifen – Israel angreifen sollte, um die Hamas zu unterstützen, wäre es nicht unwahrscheinlich, dass Israel mit einem Angriff auf den Iran reagiert, deren höchster Führer von der Hisbollah als oberste Autorität anerkannt wird. Das wiederum könnte einen Flächenbrand im Südkaukasus auslösen, da Israel mit Aserbaidschan als Irans nördlichem Nachbarn militärisch kooperiert. Es werden bereits Flugbewegungen zwischen Israel und Aserbaidschan beobachtet, die auf Waffenlieferungen hindeuten könnten und darauf, dass Aserbaidschan Armenien angreifen oder sich an einem israelischen Krieg gegen den Iran beteiligen wird.Wo soll das noch hinführen? Wissen die USA und ihre Verbündeten wirklich nicht, was sie tun, indem sie keinen Ausweg aus dem Konflikt um die Ukraine suchen? Sollen wir weiter den Unsinn glauben, dass der Westen es der Ukraine überlasse, wie lange sie ihren völlig aussichtslosen Versuch, die ostukrainischen Gebiete zurückzuerobern, noch fortsetzen will? Nein, das wird natürlich in den USA entschieden, und auch die deutsche Regierung spielt mit, weil sie doch wenigstens protestieren könnte. Gerhard Schröder, der heute so gescholtene frühere Bundeskanzler, nahm es sich noch heraus, einem US-Präsidenten öffentlich zu widersprechen. An ihm sollte sich Olaf Scholz ein Beispiel nehmen.
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