Jubel und Raketen

Israel Unsere Autorin reiste von Berlin nach Tel Aviv
Ausgabe 29/2014

Meine Freundin hatte diese Aktion „Kuscheln mit dem Feind“ genannt. Sie wollte mich für meine Reise nach Israel, wie sie sagte, desensibilisieren. Nun saß ich vor einem Späti auf der Sonnenallee in Neukölln, trank Wasser statt Bier, während meine Freundin sich Rotkäppchensekt in den Pappbecher goß, und schaute das Endspiel der Weltmeisterschaft. Die meisten anderen hier stammten zu einem großen Teil aus arabischen Ländern.

Die Deutschen hatten bereits 85 Minuten versucht, ein Tor zu schießen, bis plötzlich die App „Red Alert“ mehrmals hintereinander ein Signal gab. Ich hatte mir Red Alert vor einer Woche erst installiert; sie informiert darüber, auf welche israelische Stadt eine Rakete abgefeuert wurde. Sehr viele Israelis haben Red Alert. Da steht dann: Rishon LeZion, Beer Sheva oder eben auch Tel Aviv. Und überdies gibt es eine Kommentarfunktion, man kann sich mit anderen Red Alert-Usern unterhalten, über Krieg und Frieden zum Beispiel.

Ein Mann, der neben mir saß und ein Deutschland-Trikot trug, schielte auf mein Telefon und fragte mich, ob das ein Verehrer sei? Ich fand das nicht so lustig. Seit 20 Jahren fahre ich eigentlich jedes Jahr zu meiner Familie nach Israel, den Flug hatte ich bereits im März gebucht und nun würde ich mitten aus Weltmeisterdeutschland hinein in einen Krieg reisen. Als Mario Götze endlich sein Tor schoss und auch über Neukölln ein Gewitter aus Jubelschreien und Böllerhagel hereinbrach, lief ich nach Hause und merkte, wie meine Angst immer stärker wurde. Je glücklicher die anderen, desto größer wurde sie. Denn auch wenn es auf israelischer Seite bislang kaum Verletzte und keine Toten gab, während auf palästinensischer Seite viel Leid verursacht worden war, handelte es sich um Krieg. Trotz alldem dachte ich keine Sekunde darüber nach, meine Reise abzusagen. Seit Tagen lebte ich ja nun schon mit den App-Nachrichten auf meinem Telefon, checkte ununterbrochen Facebook und sprach mit meinen Verwandten und Freunden. Nicht zu fahren, das hätte sich angefühlt, als würde ich sie im Stich lassen.

Nun bin ich seit Dienstagabend in Tel Aviv. Kaum angekommen gab es bereits nach zehn Minuten den ersten Raketenangriff. Zehn Minuten, in denen ich lediglich erste Sachen ausgepackt und mich ins Internet geloggt hatte. Als die Sirene ertönte, hörte ich Musik, so laut, dass ich zuerst nichts mitbekam. Dass der Sirenensound nicht zum Lied passte, merkte ich ungefähr nach einer Minute. Ich stellte den Song leiser, ging auf den Balkon, obwohl ich mich eigentlich in den Hausflur hätte stellen sollen, und sah wie eine Rakete über die Stadt flog, und noch eine, und dann gab es ein kurzes Boom Boom und dann einen sehr lauten Knall, der eine enorme Druckwelle auslöste. Ich konnte sie in meinem Bauch spüren. Dann schaute ich noch eine Weile den weißen Kondensstreifen am wolkenlosen Himmel nach, ging ich ins Schlafzimmer zurück und machte den Song wieder lauter.

Mirna Funk schrieb zuletzt die Freitag - Titelgeschichte „Barbie-Feminismus“

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