Tschernobyl Das AKW Tschernobyl ist am 26. April vor 38 Jahren explodiert. Noch immer ist die Gegend radioaktiv verseucht. Der russische Überfall hat die Lage im Sperrgebiet dramatisch verschärft. Trotzdem kehrt langsam wieder Normalität ein
Die Lage am Atomkraftwerk in Tschernobyl hat sich mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine verschärft
Foto: John Moore/Getty Images
Das war eine brillante Idee: Ende der 1990er Jahren siedelte die „Staatliche Agentur zur Entwicklung und Verwaltung der Sonderwirtschaftszone“ gut zwei Dutzend Przewalski-Pferde rund um das zerstörte Atomkraftwerk und den dazugehörigen Ort Tschernobyl an. Mit beachtlichem Erfolg: Die gigantischen Buschbrände, die jeden Herbst in der radioaktiv verseuchten Sperrzone ausbrachen, konnten so eingedämmt, wenn nicht gar verhindert werden.
Vor 38 Jahren hatte es ein paar Tage gedauert, bis die Behörden begriffen, was da eigentlich passiert war im Atomkraftwerk von Tschernobyl. Am 26. April 1986 war im Reaktor 4 des AKW „W. I. Lenina“ der GAU passiert, der „Größte anzunehmende Unfall“. Der Reaktorkern explodierte, schleuderte ge
iert, der „Größte anzunehmende Unfall“. Der Reaktorkern explodierte, schleuderte gewaltige Mengen Radioaktivität in die Atmosphäre, die Strahlung der Spaltelemente war in unmittelbarer Umgebung für den Menschen tödlich.Waldbrände setzten große Mengen an Radioaktivität frei„Natürlich mussten auch die Bauern das Gebiet verlassen“, sagt Andrij Tymtschuk, Vizechef der Verwaltungsagentur für die Zone. Das hatte zur Folge, dass die Felder nicht mehr bewirtschaftet werden konnten und stattdessen mit hohem Gras zuwucherten. Das trocknete im Sommer und dörrte dann aus – und brannte im Herbst wie Zunder. „Regelmäßig brachen große Feuer aus, bei denen im Boden gebundene Radioaktivität wieder freigesetzt wurde“, sagt Tymtschuk. Besser wurde das erst nach Ansiedlung der Pferde, deren Fresslust das Gras den Sommer über flach hielt.Offenbar eine Win-Win-Situation: „Die Herde ist heute auf über 150 Exemplare angewachsen.“ Viel freie Fläche, genug zum Fressen, keine Feinde - die Wildpferde hätten beste Bedingungen zu ihrer Fortpflanzung in der Zone vorgefunden. „Nicht einmal die Radioaktivität konnte ihnen etwas anhaben“, sagt Andrij Tymtschuk. Das hätten wissenschaftliche Untersuchungen gezeigt. Und trotzdem sind die Urpferde, die in den 1960ern in freier Wildbahn eigentlich schon als ausgestorben galten, jetzt in ihrer Existenz bedroht.Placeholder image-1Das liegt am Überfall Russlands auf die Ukraine. „Die Russen starteten ihren Vormarsch gegen Kyiv im Februar 2022 auch von weißrussischem Staatsgebiet aus“, sagt der stellvertretende Zonen-Verwalter Andrij Tymtschuk. Das bedeutet: Sie mussten durch das Sperrgebiet von Tschernobyl. Dabei zerstörten sie so ziemlich alles, was die Agentur in den letzten Jahren dort wieder aufgebaut hatte: Straßen, Gebäude, Spezialfahrzeuge, Server, Computer, Dosimeter; eine lange Liste, wie Tymtschuk sagt: „Nach unseren Erhebungen belaufen sich die Schäden auf mehr als 100 Millionen Euro.“Überall liegen Minen – kein Mensch weiß, wo genauAllerdings ist das nicht das größte Problem, das Tymtschuk und seine Mitarbeiter plagt: Die Russen haben weite Teile der Zone vermint, auch Blindgänger liegen überall herum. „Wie viele Mienen es sind, wo sie liegen, das weiß niemand. Nur dass es sehr viele sind, das ist uns klar.“ Tödlichen Munition im Sperrgebiet: Die Mitarbeiter fürchten, dass es die Pferde sein werden, die viele Mienen aufspüren – und mit ihrem Leben bezahlen werden.Vor der Invasion war die Strahlung stark zurückgegangen, was in der Physik der Sache liegt: Spaltelemente etwa des Cäsiums haben eine Halbwertszeit von 30 Jahren. Der Reiseführer lonely planet empfahl die Sperrzone von Tschernobyl deshalb 30 Jahre nach dem GAU als „unheimlichste“ Tour auf der Welt: Ein Aufenthalt von wenigen Stunden rings um das Kraftwerk galt als nicht mehr gefährlich. Dennoch ist der Grund im Radius von 30 Kilometern um das Kraftwerk noch viele hunderte Jahre verstrahlt, „und zwar so, dass die Gegend für den Menschen unbewohnbar ist“, sagt Tymtschuk.Strahlender Sand wird durch Panzersperren und Granateinschläge aufgewirbeltUnd der russische Überfall hat die Lage vor Ort wieder verschlechtert. Granateneinschläge, Panzer, die die Erde umpflügten, Stellungen, die an besonders verstrahlten Regionen ausgehoben wurden – der russische Vormarsch setzte im Boden gebunden Radioaktivität wieder frei. „Erhebliche Mengen, wie unsere Messungen gezeigt haben“, sagt Tymtschuk. Zwar sei einiges davon mittlerweile durch Wind und Wetter weiter getragen und in der Umwelt „verdünnt“ worden. „Wir haben aber spezielle Kontrollen eingeführt und halten ein Dekontaminierungsprogramm bereit für den Fall, dass ein Fahrzeug oder ein Waldstück zu hohe Strahlungswerte aufweist.“Menschenleer war die Sperrzone um das AKW seit 1986 tatsächlich nie: Bis ins Jahr 2000 lieferte das Kraftwerk weiterhin Strom, täglich pendelten zehntausend Kraftwerker ins Werk. Das ist auch heute noch so: Es gibt zehn staatliche Unternehmen, die aktuell 4.800 Menschen in der Zone beschäftigen. Größter Arbeitgeber mit 2.500 Mitarbeitern ist jene Firma, die den Rückbau des Kraftwerks vorantreibt, aktuell werden die Blöcke 1 bis 3 demontiert. Zweitgrößter Arbeitgeber ist eine Firma, die sich um die Zwischenlagerung der radioaktiven Abfälle kümmert.Erneuerbare Energien: Boom in der SperrzoneUnternehmen wie Radon-Enterprise halten Technik und Know How für radioaktive Unfälle in der Ukraine und darüber hinaus bereit. „Eine Art Feuerwehr für Atomunfälle“, sagt Andrij Tymtschuk. Andere Firmen entwickeln Verfahren zur Analyse von Radioaktivität und kontrolliert im ganzen Land. „Wir haben in der Zone um Tschernobyl ein atomares Kompetenzzentrum geschaffen“, sagt Andrij Tymtschuk.Nach seinen Vorstellungen soll daraus jetzt auch ein Erneuerbares-Energien-Kompetenzzentrum werden: „Es gibt mehrere Pläne für große Solar- und Windparks im Sperrgebiet, einige sind weit fortgeschritten.“ So habe Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Bündnisgrüne) im vergangenen Jahr beispielsweise die deutsche Firma Notus als Partner für 1.000 Megawatt Windleistung vermittelt. Solche Projekte seien ungemein wichtig, weil die Russen die Hälfte aller Kraftwerke der Ukraine zerstört haben und spätestens im nächsten Winter mit Stromausfällen zu rechnen ist.Solar-, Biomasse- oder Windkraft: „Diese dezentrale Struktur ist viel schwerer zu zerstören als ein Kohlekraftwerk, das auf engstem Raum beispielsweise 700 Watt Leistung bereitstellt.“ Interessenten aus dem Ausland gebe es genug. „Andererseits sind solche Vorhaben aber schwer zu realisieren, so lange die Russen uns beschießen“, sagt Behördenchef Andrij Tymtschuk. „Natürlich sind wir dankbar für solche Partnerschaften. Bevor die jedoch zum Tragen kommen können, brauchen wir aber erstmal Waffen, um dem Spuk ein Ende zu bereiten.“
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