Tod im Titanic-U-Boot: Besser sind wir auch nicht

Meinung Ein U-Boot wollte zur Titanic. Jetzt liegen seine Trümmer mit ihr am Meeresgrund. Beide Male wurden Menschen Opfer ihrer gnadenlosen Selbstüberschätzung – aber es gibt noch mehr daraus zu lernen
Ausgabe 26/2023
Tauchboot „Titan“ der Tourismusfirma OceanGate: „Sicherheit ist pure Verschwendung“
Tauchboot „Titan“ der Tourismusfirma OceanGate: „Sicherheit ist pure Verschwendung“

Foto: Imago/Zuma Wire

Im Jahr 1935 schrieb Kurt Tucholsky einen Brief an uns. Im „Gruß nach vorn“ geht es um die Arroganz des modernen Menschen gegenüber Zeitgenossen vergangener Epochen. Statt zurückzublicken, richtet Tucholsky das Wort fünfzig Jahre in die Zukunft. „Wir verstehen einander gar nicht. Ich bin wohl zu klein; meine Zeit steht mir bis zum Halse“, schreibt der Satiriker. „Ich kann nicht einmal über die Köpfe meiner Zeitgenossen hinweg ein erhabenes Gespräch mit dir führen, so nach der Melodie: wir beide verstehen uns schon, denn du bist ein Fortgeschrittener, gleich mir. Ach, mein Lieber: auch du bist ein Zeitgenosse.“ Fürs tägliche Leben hätten wir sicher „dreihundert nichtige Maschinen mehr“ als er, und die großen Fragen würden wir trotzdem nicht lösen. Ein prophetischer Text – in diesen Tagen wohl mehr als je zuvor.

„Ein experimentelles Tauchboot, das von keiner offiziellen Stelle genehmigt oder zertifiziert ist und physische Verletzungen, Behinderungen, emotionales Trauma oder Lebensgefahr verursachen kann“, liest Reporter David Pague in der US-amerikanischen Sendung CBS Sunday Morning vor. Dann grinst er. „Wo muss ich unterschreiben?“ Im Interview sitzt ihm Stockton Rush gegenüber. Der Gründer und CEO der Extremtourismus-Firma OceanGate ist ein smarter, athletischer Typ, der zehn Jahre jünger aussieht, als er ist. Trotz der grauen Haare. Eine Mischung aus Bill Clinton und Elon Musk. Stolz zeigt er Pague besagtes Boot, seine „Titan“, demonstriert ihren einzigen Knopf, die Einzelteile vom Camping-Ausstatter, den Videospielcontroller zum Steuern. Sechs Monate später geht der Clip viral. Da ist Stockton Rush schon tot. Zerquetscht von unvorstellbaren Wassermassen. So schnell, urteilen Experten, dass wohl weder er noch einer der vier weiteren Insassen etwas mitbekommen haben, bevor die Wände des „experimentellen“ Tauchboots kollabierten.

Rush und seine Kunden wollten die Titanic sehen, den legendären Ozeandampfer, der 1912 mit einem Eisberg kollidierte und sank. Auf dem Boden des Nordatlantik, knapp vier Kilometer unter dem Meeresspiegel, liegt seitdem das berühmteste Wrack der Welt. Irgendwann wird es sich auflösen, und außer Rostpartikeln, die mit bloßem Auge nicht sichtbar sind, wird nichts von der „unsinkbaren“ Titanic übrigbleiben. Die Natur ist unbarmherzig an diesem Ort. Die Temperatur liegt knapp über dem Gefrierpunkt, das Wasser drückt mit 400 Kilogramm auf einen Quadratzentimeter. Trotzdem wollte OceanGate nichts von behördlichen Regularien wissen. Stockton Rush kannte nur eine einzige Autorität: sich selbst. „Regularien stehen der Innovation im Weg“, erklärte er einmal. Jetzt liegen die Teile seines Tauchboots, die die Implosion überlebt haben, mit den Resten der Titanic am Meeresgrund.

Die Ironie ist kaum zu übersehen: hier ein Luxusschiff, das man für absolut sicher hält, dessen Personal deshalb keine Übung im Evakuieren hat, das mit zu wenigen Rettungsbooten ausgestattet ist, kurzum, dessen Erbauer zu geblendet sind von der eigenen Großartigkeit, um zu erkennen, dass sie eine Todesfalle geschaffen haben. Und dort ein gelernter Pilot und Luftfahrtingenieur, der ein Tiefseeboot baut und sagt, Sicherheit sei ab einem gewissen Punkt „pure Verschwendung“, er könne genauso sicher sein, wenn er die Regeln breche.

Es gibt noch einen Faktor neben der gnadenlosen Selbstüberschätzung, dieser amerikanisch-pubertären Überzeugung, Regeln seien was für Spießer und Kommunisten. Dieser Faktor heißt Geld. Die Touristen an Bord waren Milliardäre, 250.000 Dollar kostete ein Ticket in die Tiefe. Einer von ihnen war davor schon im Weltall. Ob Reichtum glücklich macht oder nicht, ist eine komplizierte philosophische Frage. Klar ist, zumindest im Fall von Hamish Harding und Shahzada Dawood – der übrigens seinen Sohn erst zum Mitfahren überreden musste – Reichtum macht leichtsinnig. Wer sein ganzes Leben in der Gewissheit verbringt, versorgt zu sein, wird diese Annahme auch beim Sterben nicht los. Auch einige Erste-Klasse-Passagiere der Titanic, die umgerechnet 4.000 Dollar für ihre Tickets bezahlt hatten, sollen fest davon ausgegangen sein, als Erste zu den Rettungsbooten zu dürfen.

„Unser Inhalt ist mit uns dahingegangen“, schreibt Kurt Tucholsky am Schluss seines Briefes, und den berühmten Abschiedsgruß könnten die Seelen der Titanic-Opfer am Grund des Ozeans ihren neuen Schicksalsgenossen zurufen: „Besser seid Ihr auch nicht als wir und die vorigen. Aber keine Spur, aber gar keine –“

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Geschrieben von

Özge İnan

Redakteurin, Social Media

Özge İnan hat in Berlin Jura studiert. Währenddessen begann sie, eine Kolumne für die Seenotrettungsorganisation Mission Lifeline zu schreiben. Nach ihrem ersten juristischen Staatsexamen folgten Stationen beim ZDF Magazin Royale und im Investigativressort der Süddeutschen Zeitung. Ihre Themenschwerpunkte sind Rechtspolitik, Verteilungsfragen, Geschlechtergerechtigkeit und die Türkei.

Foto: Léonardo Kahn

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